„Es zieht einem den Boden unter den Füßen weg.“ Hendrik Wüst hat sich am Dienstag (14. März) bestürzt über den gewaltsamen Tod der 12-jährigen Luise aus Freudenberg gezeigt. Der NRW-Ministerpräsident deutete in dem Zusammenhang an, dass die Gewalttaten durch Jugendliche und auch Kinder zuletzt auf beunruhigende Art und Weise gestiegen sind.
„Wir müssen diese Entwicklung nicht nur genau beobachten, wir müssen sie untersuchen, Ursachen finden und Präventionsarbeit leisten“, betonte Wüst nach dem verstörenden Gewaltakt in Freudenberg, zu dem sich zwei gleichaltrige Mädchen (12 und 13) bekannt haben (mehr hier). Juristische Konsequenzen müssen die Minderjährigen nicht fürchten. In Deutschland ist deshalb eine Diskussion über die Herabsetzung des Alters zur Strafmündigkeit entbrannt (hier mehr Details).
„Das halte ich für völligen Bullshit“, sagt Diplom-Psychologe Sebastian Bartoschek im Gespräch mit DER WESTEN. Aus Sicht des Experten der Jugend- und Kinderpsychologie müssten ganz andere Konsequenzen gezogen werden – nicht erst seit dem Fall Luise aus Freudenberg.
Freudenberg (NRW): Immer mehr Kinder straffällig
Die Zahlen sprechen eine eindeutige Sprache. Die Zahl der tatverdächtigen Kinder- und Jugendlichen in NRW ist im Jahr 2022 gegenüber den Vorjahren signifikant gestiegen, bestätigte das Innenministerium gegenüber DER WESTEN. Laut polizeilicher Kriminalstatistik haben die Behörden im Jahr 2022 Ermittlungen gegen rund 21.000 Kinder aufgenommen. Zum Vergleich: 2021 waren es noch rund 15.000. Und auch vor dem Ausbruch der Pandemie (2018) lag die Zahl lediglich bei knapp über 15.000 Fällen.
Auch die Zahl der Ermittlungen gegen Jugendliche ist im Jahr 2022 auf knapp 45.000 gestiegen. Das sind fast 9.000 Fälle mehr als im Vorjahr und rund 3.000 mehr Tatverdächtige als noch 2018. Dabei geht es nach Erhebungen des Landeskriminalamts in den meisten Fällen um Körperverletzungen. Auch die Zahl schwerer Körperverletzungen steigt. Experten betonen allerdings, dass der gewaltsame Tod von Luise eine extreme Ausnahme sei. „Nach allem, was wir wissen, ist die Tat ein zutiefst verstörender Höhepunkt der Gewalt von Minderjährigen“, fasste Hendrik Wüst zusammen. Der NRW-Ministerpräsident betonte deshalb, dass es nicht die Zeit für einen politischen Schnellschuss sei. Vielmehr müssten nun Gründe für diese gesellschaftliche Entwicklung gefunden werden. Sebastian Bartoschek liefert dazu Erklärungsansätze.
Psychologe bemerkt Zunahme von Aggressionen
Auch der Kinder- und Jugendexperte beobachtet in den letzten Jahren eine Zunahme psychischer Auffälligkeiten bei Minderjährigen und bringt diese in Zusammenhang mit den Folgen der Corona-Pandemie. Mehr impulsives, mehr aggressives Verhalten. Dabei verweist der Psychologe auf die Copsy-Studie, nach der die psychische Belastung von Kindern und Jugendlichen auch nach dem Höhepunkt der Pandemie noch sehr hoch sei. „Das wird uns noch jahrelang beschäftigen“, prophezeit Bartoschek.
Der Psychologe betont, dass sich der Gewaltakt von Freudenberg dadurch nicht erklären lasse. Mangels Einblick wolle er über den Einzelfall auch keine Mutmaßungen anstellen. Dennoch sei bei allen Straftaten nicht zu vernachlässigen, dass Kinder und Jugendliche durch die Schutzmaßnahmen – so sinnvoll sie aus seiner Sicht auch waren – in den letzten Jahren wenig Gelegenheiten hatten ihr Sozialverhalten zu erproben. Dazu sei der Druck auf Schüler insbesondere aus strukturschwachen Familien gestiegen. Viele seien durch Homeschooling abgehängt und fürchten um ihre Abschlüsse. Hinzu kämen möglicherweise familiäre Sorgen durch Jobverlust oder finanziellen Druck durch die Inflation, der sich auf Minderjährige übertragen könnte.
Welche Rolle spielen die Sozialen Medien
Hinzu kämen noch Inhalte in Sozialen Medien wie „Tiktok“. Hier feiern sich Kinder und Jugendliche teilweise für Gewalttaten (mehr hier). Bartoschek sieht eine Tendenz, dass gewalttätiges Verhalten enttabuisiert wird, „weil es Klicks gibt, weil es irgendwie ‚fun‘ ist“. „Tiktok“ mache unsere Kinder nicht zu Straftätern, aber man müsse genau hinschauen.
In dem Zusammenhang nimmt der Psychologe in erster Linien Eltern in die Pflicht: „Die Lösung ist trivial: Erziehungsberechtigten müssen wissen, was ihre Kinder machen.“ Sie müssten für die Medienkompetenz ihrer Kinder sorgen, Inhalte einordnen, sich für sie interessieren. Daneben müsste aber auch in Kitas und Schulen genauer hingeschaut werden – vor allem bei Kindern aus strukturschwachen Familien.
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Erzieher und Lehrer müssten Warnzeichen (Schulschwänzen, entmenschlichende Sprache und Co.) erkennen, ernst nehmen und im Austausch mit Sozialarbeitern und Psychologen angehen. Ein entsprechender Personalschlüssel sei dazu natürlich notwendig. Ähnlich verhält es sich mit einer weiteren Forderung des Psychologen: Kita und Ganztagsschule (OGS) kostenfrei anzubieten. Dadurch hätten alle Kinder unabhängig von der Einkommenssituation der Eltern die Gelegenheit, ihr Sozialverhalten frühzeitig in Gruppen zu erproben. Ein weiterer Nebeneffekt: Psychische Auffälligkeiten könnten schneller durch Fachpersonal erkannt werden. Voraussetzungen, um Straftaten möglicherweise präventiv anzugehen. Mehr Fachkräfte an Kitas und Schulen und kostenlose Bildungsangebote – konkrete Hinweise für NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst, politisch etwas zu bewegen.