Thomas Kutschaty kämpft um den Posten des Ministerpräsidenten in NRW. Nach fünf Jahren in der Opposition will der Spitzenkandidat der SPD Amtsinhaber Hendrik Wüst (CDU) von seinem Posten verdrängen.
Im Interview mit DER WESTEN verrät Thomas Kutschaty, in welche Bereiche er sofort Geld pumpen würde, wie er die Situation in Schulen und Krankenhäusern verbessern will und wann die wirklichen Gas-Probleme auf uns zukommen.
DER WESTEN: Man sagt, die A40 trenne im Ruhrgebiet arm und reich. Sie selbst sind als Arbeiterkind in Essen-Borbeck geboren. Haben den Aufstieg in die Spitzenpolitik aus dem ärmeren Norden geschafft. Wo liegt für Sie der Schlüssel, dass die Herkunft eines Menschen weniger entscheidend für dessen Zukunft in NRW ist?
Thomas Kutschaty: Ich bin Jahrgang 1968, damals war ein solcher Bildungsaufstieg leichter möglich als heute. Das müssen wir ändern. Ich will Ministerpräsident werden, um das Aufstiegsversprechen zu erneuern – mit individueller Förderung und indem wir Ungleiches auch ungleich behandeln. Heute kann man anhand der Postleitzahl die Bildungsperspektiven von Kindern mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit vorhersagen. Da kann der Staat nicht zuschauen und muss aktiv werden.
Wir müssen an den Schulen mit den größten sozialen Herausforderungen auch die meisten Kräfte abstellen, sie sanieren, Klassengrößen reduzieren und für gute Sozialarbeit sorgen. Das kostet was, ist aber gut investiertes Geld. Denn die ersten Jahre eines Menschen entscheiden, wie die weiteren 80, 90 Jahre verlaufen.
Es ist aber kein Geheimnis, dass es jetzt schon zu wenige Lehrer und Fachkräfte gibt. Wie wollen Sie diesem Problem begegnen?
Der Unterrichtsausfall ist enorm. Dagegen hilft auch der Wahlkampf-Vorstoß der regierenden CDU nicht, die 10.000 neue Lehrstellen ankündigt. Wir haben heute schon über 8.000 unbesetzte Lehrstellen. Wir brauchen jetzt ausgebildetes Personal, keine Leerbuchungen. Daher müssen wir mittelfristig deutlich verstärkt Lehrkräfte ausbilden und mehr Studienplatzkapazitäten schaffen.
Wir brauchen zudem kurzfristige Lösungen. Da gibt es zwei Ansätze, die ich verfolge: Wir haben viele Lehrer, die irgendwann in Teilzeit gegangen sind – ich kann mir gut vorstellen, dass einige von ihnen bereit sind, mehr zu unterrichten. Ich möchte mit den Verbänden auch darüber sprechen, wie man Lebenszeitkonten einführen kann. Wer in jungen Jahren Lehrer geworden ist, kann dadurch ein paar Stunden mehr pro Woche unterrichten, dafür aber früher in Pension gehen.
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Ein weiterer Punkt sind Seiteneinsteiger. Ein Meister aus einem Unternehmen, der jahrelang für Auszubildende zuständig war, ist bestimmt kein schlechterer Pädagoge an einer Berufsschule. Solche Ideen gilt es jetzt zu diskutieren.
Viele Fachkräfte fehlen auch in der Pflege. Wie wollen Sie die Arbeitsbedingungen in Pflegeberufen verbessern?
Es gibt keine geregelten Dienstzeiten und die Arbeitsbelastung ist zu hoch. Viele Beschäftigte wissen nach Feierabend nicht, ob sie nicht doch zur Rufbereitschaft oder am Wochenende arbeiten müssen. Wir erleben, dass festangestelltes Personal in Krankenhäusern zu privaten Leiharbeitsfirmen wechselt, weil man dort mehr verdient und man sich das Krankenhaus mitsamt Arbeitszeiten aussuchen kann. Den Krankenhausbetreibern kostet das immense Summen, Personaldienstleister in Anspruch zu nehmen, um Personalmangel auszugleichen.
Wir müssen diesen Teufelskreis durchbrechen, indem wir bessere Arbeitsbedingungen herstellen – und zwar sofort. Deswegen brauchen wir einen besseren Personalschlüssel, feste Regelungen, wie es mit der Abgeltung von Mehrarbeitsstunden aussieht, und mehr Raum in der Ausbildung.
Ich habe erst in der letzten Woche mit einer Auszubildenden gesprochen, die mir sagte, dass sich eine Ausbilderin auf ihrer Station derzeit um acht Auszubildende kümmert. Da wurde ich gewarnt: Bitte nicht mehr ausbilden. Das ist doch verrückt. Als Land NRW müssen wir daher als Arbeitgeber sofort die Bedingungen an unseren sechs Universitätskliniken verbessern. Mein Ziel ist es, Pflegekräfte zurückzugewinnen, die in andere Berufe geflüchtet sind. Denn die, die diesen Beruf erlernen, stecken da viel Herzblut rein.
Wie wollen Sie denn gewährleisten, dass auch private Träger wie Helios, Sana und Co. sich an den Arbeitsbedingungen von Uni-Kliniken richten?
Das kriegt man in letzter Konsequenz gesetzlich hin. Ich glaube aber, dass private Krankenhäuser unter Zugzwang geraten, wenn sie sehen, dass das Pflegepersonal sich auf die Stellen in den Landeskliniken bewirbt und dort aufgrund von besseren Arbeitsbedingungen lieber arbeiten will. Damit würde ein positiver Wettbewerb um die Fachkräfte beginnen.
Wenn wir aus NRW rauszoomen, haben wir aktuell drei große globale Krisen. Die Corona-Pandemie, den Klimawandel und den Ukraine-Krieg. Befürworten Sie angesichts der Inflation Einmalzahlungen wie Corona-Boni oder Energiegeld oder brauchen wir langfristigere Lösungen?
Wir haben uns mit der Erhöhung des Mindestlohns auf den richtigen Weg gemacht, denn wir können als Staat nicht dauerhaft künstlich in den Markt eingreifen, wie bei den Benzin- und Heizkosten. Da werden die großen Probleme im nächsten Frühjahr auf uns zukommen, wenn wir die Gasrechnung vom kommenden Winter zahlen müssen.
Da werden die monatlichen Vorauszahlungen kaum reichen, um die Jahreszahlung für 2022 zu decken. Die langfristige Lösung sind bessere Löhne für die Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen.
Aber sind die aktuellen Spritpreise nicht der beste Anlass, massiv in den ÖPNV zu investieren?
Deswegen habe ich mir vorgenommen, die Erfahrungen, die wir mit dem 9-Euro-Ticket machen, zu evaluieren. Wie wird es mit den Kapazitäten aussehen, wie mit den Verbindungen, wie mit der Auslastung? Die Lösung für die Klimaprobleme können ja nicht nur Elektro-Autos sein, sondern auch ein besserer ÖPNV.
Dafür müssen auch alte Bahntrassen reaktiviert werden. Ich war zum Beispiel vor wenigen Wochen in Herten. Es ist kaum zu glauben, dass eine Stadt mit so vielen Einwohnern keinen eigenen Bahnanschluss hat. Der Zug fährt durch, aber hält nicht. Jetzt werden zwei neue Haltestellen gebaut. Das ist der richtige Weg.
Ihre Fraktion und Sie persönlich haben immer wieder Kritik an der schwarz-gelben Corona-Politik geäußert. Wie hätten Sie als Ministerpräsident die Corona-Politik gestaltet?
Die Kritik war notwendig. Fragen Sie mal die Schüler, Lehrer und Eltern. Das sage ich nicht nur als Politiker, sondern auch als Vater. Das Management war schlecht. Es gibt heute an Schulen kein Testverfahren mehr. Auch hier schiebt die Landesregierung die Verantwortung auf andere ab: mal nach Berlin, mal auf die Kommunen, mal auf die Eltern. Jetzt müssen die Eltern mit dem neuen Testverfahren das Ganze ausbaden.
Es gibt kein Gesetz aus Berlin, das uns verbietet, an Schulen und Kitas weiter zu testen. Mein Vorschlag ist, dass die Tests von den Schulen organisiert werden, um die Eltern zu entlasten. Da darf sich das Land nicht aus der Verantwortung ziehen. Ich hätte mindestens bis zu den Osterferien die Schultests weitergeführt, idealerweise sogar bis zum Sommer.
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Durch die Corona-Maßnahmen hat sich bei einigen Frust und Wut aufgestaut. Wie wollen Sie diese Menschen zurückgewinnen, wie soll sich die Gesellschaft wieder versöhnen?
Ich trete der Behauptung entgegen, dass unsere Gesellschaft gespalten ist. Die Allermeisten befürworten die Schutzmaßnahmen nach wie vor. Der Protest kommt meist von einer breitbeinig auftretenden Minderheit. Wer laut ist, hat aber nicht automatisch recht.
Würden Sie diese Menschen ignorieren, quasi auf der Strecke einfach stehen lassen?
Ich kann nicht Kompromisse mit Leuten eingehen, die überhaupt nicht kompromissbereit sind. Vielmehr muss es darum gehen, denen, die in einer eigenen Welt leben, einen Ausstieg zu ermöglichen. Hier brauchen wir gute Programme.
Im zweiten Teil des Interviews mit dieser Redaktion liefert Thomas Kutschaty eine Kampfansage an die organisierte Kriminalität: „Ich will die Luxus-Autos der Gangster-Bosse“ (mehr dazu hier).