In Cleveland müssen sich Angehörige des Amish-Volkes in einer besonders haarigen Angelegenheit verantworten. Sie haben ihren Glaubensbrüdern Bärte und Zöpfe abgeschnitten. Die Welt der religiösen Minderheit ist aus den Fugen geraten.
Cleveland.
Um seine Vorstellungen von Gottgefälligkeit auf Erden durchzusetzen, griff Sam Mullet in Ausnahmefällen schon mal auf sehr weltliche Mittel zurück. Weil den Amish-Leuten nur Tretroller, Fahrrad und Pferdekutsche gestattet sind, um mobil zu sein, ließ der Anführer einer radikalen Abspaltung von Nachfahren der im 18. Jahrhundert eingewanderten schweizerischen und württembergischen Mennoniten im vergangenen Herbst ein Auto mit Chauffeur kommen. Damit seine Söhne Johnny und Sam sowie ein paar andere Getreue zügig zu einem der aberwitzigsten Tatorte der jüngeren amerikanischen Kriminalgeschichte gelangen konnten.
Dort taten sie nach Überzeugung der Justiz, was ihnen von Mullet befohlen war: Sie schnitten in Ungnade gefallenen Glaubensbrüdern und -Schwestern wie dem 74-jährigen Bischof Raymond Hershberger mit Scheren und Elektrorasierern rabiat Bärte und Zöpfe ab. Dass die Brutalo-Friseure dabei nicht zimperlich vorgingen, beweisen bis heute unübersehbare Narben. Für die männlichen Opfer war der feindselige Akt eine Demütigung. Amishe müssen das Kinnhaar ab der Heirat ungestylt lassen; Schnurrbärte gelten als eitel.
250.000 Amish in den USA
Seither ist im Jefferson County im US-Bundesstaat Ohio das Leben in der radikal-pazifistischen Glaubensgemeinschaft aus den Fugen geraten, die in ganz Amerika 250.000 Mitglieder hat. Bis Mitte September will Bezirksrichter Dan Aaron Polster in Cleveland die Sache wieder ins Lot bringen. Bis dahin soll ein Urteil auf Grundlage des Hass-Verbrechen-Gesetzes („hate crime“) stehen, das für Mullet und seine insgesamt 15 Schnitter mit jeweils bis zu 20 Jahren Gefängnis enden kann. Der „Barträuber“-Fall findet seit Beginn internationale Aufmerksamkeit, die sich allenfalls mit dem in der Amish-Welt spielenden Hollywood-Film „Der einzige Zeuge“ mit Harrison Ford messen kann.
Als Richter Polster gestern die Geschworenen-Auswahl abschließen wollte, sollen sich sogar Fernsehteams auch Asien auf den Gerichtsgängen in Cleveland herumgetrieben haben. Dass sich Myron Miller und andere Opfer überhaupt an die Justiz der „English“ wandten, so nennen die untereinander noch immer ein altertümliches, alemannisches Deutsch sprechenden Amish Menschen außerhalb ihrer Gemeinde, war für den ermittelnden Sheriff Fred Abdalla im September 2011 eine „kleine Sensation“. Normalerweise würden Konflikte bei den abgeschieden lebenden Bauern stets intern geschlichtet.
Multimillionär gründet „FBI“
Sam Mullet hat dieses Gesetz gebrochen. Der 66-Jährige Multimillionär, er verdiente sein Geld, in dem er auf seiner Farm Rechte für die Gasgewinnung verkaufte, streitet bis heute ab, die Bestrafungsaktionen in Auftrag gegeben zu haben. Obwohl Protokolle von abgehörten Telefonaten und Verhören, die von der Bundespolizei FBI vorgelegt wurden, das Gegenteil bezeugen. Danach hat Mullet nie verwunden, dass er vor 17 Jahren mit einigen Dutzend Gesinnungsgenossen innerhalb der Amish-Community wegen seiner Radikalität immigrieren und seinen „eigenen Clan“ (FBI) aufmachen musste.
In dem abgeschiedenen Örtchen Bergholz gebärdet sich der wortkarge Hagestolz seither offenbar wie ein despotischer Sektenführer. Unfolgsame Brüder und Schwestern werden schon mal in Hühnerkäfigen zur Räson gebracht. Widerspenstige Ehefrauen anderer Amish bestellt Mullet zum außerehelichen Sex ein, um sie „vom Teufel zu reinigen“. Der Mann hat 18 Kinder. Von sehr vielen Müttern. Als einer seiner eigenen Söhne die Diktatur nicht mehr aushielt und Bergholz den Rücken kehrte, belegte Mullet ihn mit einem Racheschwur. Dass er es vordringlich auf die Bärte seiner Opfer abgesehen hat, mag für Außenstehende bizarr anmuten. Innerhalb der Amishen ist, so Donald Krybaill vom Elizabethtown College in Pennsylvania, der Verlust der meist zotteligen Zierde „schlimmer als blund und blau geprügelt zu werden“.
Ohne Bart nackt
Der Bart manifestiere den Glauben an Gott und stehe für persönliche Integrität. Ohne Bart ist ein älterer Amish quasi nackt und traut sich nicht vor die Tür. Ob es gelingt, die Würde in dem auf drei Wochen angesetzten Prozess wieder herzustellen, ist nach Ansicht der Zeitung „Plaindealer“ ungewiss. Über der Sache wabere eine unerquickliche Spannung. Einer der Täter, Johnny, hatte in einem Telefonat mit seinem Vater die Sorge geäußert, ihm würde im Falle einer Verurteilung die Kinder weggenommen. Mullet hat nach FBI-Erkenntnissen abgewiegelt. Dazu werde es nicht kommen. Vorher werde „jemand sterben“.