Die konservative Glaubensgemeinschaft der Amish in den USA ist in Aufruhr. Drei ehrenwerte Mitglieder wurden Opfer eines Verbrechens. Ihnen wurden nächtens die Bärte abrasiert. Ein wahrhaft ehrabschneidendes Vergehen.
Washington.
Wenn sich „The Budget“ von anderen Zeitungen in Amerika unterscheidet, dann darin: Kriminalität, Gewalt, Finanzkrise und andere Übel dieser Welt finden so gut wie nie Eingang in die Spalten des seit 1890 verlegten Blattes aus Sugarcreek im US-Bundesstaat Ohio. Die Amish-People, Kernleserschaft und Nachfahren der vor über 200 Jahren aus Deutschland und der Schweiz eingewanderten Wiedertäufer, mögen so was nicht.
Das Wetter, die letzte Ernte, Koch-Rezepte oder die Gemütslage des Dorfältesten Jacob, der sich gerade ein Bein gebrochen hat und dringend der Aufmunterung bedarf, sind ergiebiger für die Glaubensgemeinschaft, die so konsequent es eben geht mit dem Rücken zur Moderne lebt. Seit Sam Mullet auf den Plan getreten ist, wird die Redaktion ihr Konzept womöglich überdenken müssen.
Der Chef gilt als überfromm und despotisch
Der als überfromm und despotisch beschriebene Chef des 120 Männer, Frauen und Kinder zählenden Bergholz-Clans aus Jefferson County soll zu einer Reihe spektakulärer Strafaktionen angestiftet haben, um allzu weltlich gewordene Glaubensbrüder Mores zu lehren: Es geht um Bart-Raub. Seit drei Männer, darunter Levi und Johnny, zwei Söhne des alten Mullets, kürzlich mit Schere und Elektro-Rasierer in das Haus des 74-jährigen Amish-Bischofs Raymond Hershberger eingedrungen sind und ihm überaus ruppig die stattliche Kinnzierde genommen haben, haben es die Amish ungewollt in die nationalen Fernsehsendungen gebracht. Hershberger ist nicht das einzige Opfer.
Was ist da los bei den als friedfertig geltenden Strenggläubigen, die in der Landwirtschaft gottesfürchtig ihre Furchen ziehen und auf dem Pferdekutschbock im XXl-Autoland USA täglich Entschleunigung vorleben? Warum hatten es die Täter ausgerechnet auf den Bart des Propheten abgesehen?
Der Sheriff vermutet eine religiöse Strafaktion
Sheriff Abdalla, der die Brutalo-Friseure erst nach Zahlungen 50 000 Dollar Kaution bis zur Gerichtsverhandlung freigelassen hat, ging im Gespräch mit Reportern einer Lokalzeitung von einer religiösen Strafaktion aus. Nur verheiratete Amish-Männer dürfen Bart tragen. Je länger die Gesichtsbehaarung ist, desto reifer der Glaubensbruder. Ohne Bart ist ein alter Amish quasi nackt.
Mullet hatte sich schon vor Jahren mit seiner Sippe in einen abgelegenen Landstrich verzogen. Dort soll der Patriarch eine besonders gottesfürchtige Spielart des „Amischen“ leben. Von einer Sekte ist die Rede. Wer Kontra gibt, findet sich schon mal über Nacht im Hühnerstall eingesperrt wieder. Mullet befand Hershberger für zu glaubensschwach. Und weil er sich als religiöser Anführer sieht, so die Ermittler nach vorläufigem Stand, nahm er sich das Recht, den anderen zu bestrafen. Ein bislang beispielloser Akt der Selbstjustiz im Amish-Land.
Wissenschaftliche Beobachter der Amish, deren Bevölkerung sich in den vergangenen 20 Jahren in den Bundesstaaten Pennsylvania und Ohio auf 250 000 verdoppelt hat, sehen die Zwischenfälle mit Unbehagen. „Bislang haben gemäßigte und ultrakonservative Clans der Amish weitgehend konfliktfrei nebeneinander her gelebt“, heißt es im Elisabethtown College, „wenn sich jetzt Eiferer in Aktion setzen, könnte das ein böses Ende nehmen.“ Zumal Gewalt oder Rache in der Religion der Amish prinzipiell auf dem Index stehen. Abwarten, was „The Budget“ demnächst dazu sagt.