Dürfen Jobs abgelehnt werden? – Die großen Hartz-IV-Irrtümer
Die einen finden, Hartz-IV-Empfänger bekommen zu viel Geld, die anderen sagen, Hartz IV sei menschenunwürdig. Fast alle sind sich einig: Das System ist zu kompliziert. Wer bekommt wirklich Hartz IV – und wie viel Geld ist das? Mithilfe eines Experten decken wir die zehn größten Irrtümer auf.
Essen.
Über drei Millionen Haushalte in Deutschland leben zumindest teilweise von Hartz IV. Doch wem steht der staatliche Zuschuss, der offiziell Arbeitslosengeld II heißt, eigentlich zu? Wie viel Geld bekommen Hartz-IV-Empfänger tatsächlich? Und wann wird es gekürzt? Christian Keller, Fachanwalt für Sozialrecht, deckt die größten Hartz-IV-Irrtümer auf.
Irrtum 1: Hartz-IV-Empfänger müssen spätestens das dritte Job-Angebot annehmen, das das Jobcenter ihnen macht.
Eine solche Regelung gibt es nicht, sagt Fachanwalt Christian Keller. Grundsätzlich müsse ein Hartz-IV-Empfänger jede zumutbare Arbeit annehmen, die ihm angeboten wird. Dabei ist es egal, ob das die Arbeit ist, die er früher gemacht hat, oder dass die Arbeit schlechter bezahlt ist als seine vorherige.
„Auch eine größere Entfernung zum Wohnort ist kein wichtiger Grund, ein Jobangebot abzulehnen“, sagt Christian Keller. Wer aber Angehörige pflegen müsse, der könne eine Arbeit ablehnen, die damit nicht in Einklang zu bringen sei. Gleiches gelte, wenn die Arbeit körperlich nicht zumutbar sei: „Wer über 50 ist und unter Rückenschmerzen leidet, kann nicht zum Spargelstechen abgestellt werden“, sagt Keller.
Irrtum 2: Wer zu viele Job-Angebote ablehnt, bekommt irgendwann einfach gar nichts mehr.
Falsch, sagt der Experte: „Der deutsche Staat lässt niemanden verhungern.“ Richtig sei aber, dass der Hartz-IV-Regelsatz komplett gestrichen werden könne, wenn jemand drei Jobangebote innerhalb eines Jahres ablehne.
Wenn der Betreffende kein eigenes Vermögen hat, auf das er in dem Fall zurückgreifen könne, habe er dann aber immer noch Anspruch auf Sachleistungen, zum Beispiel Lebensmittelgutscheine. „Darüber muss das Jobcenter ihn auch informieren, wenn es Leistungen kürzt“, sagt Keller. Denn solche Sachleistungen gibt es nur auf Antrag.
Und selbst dann übernehme das Jobcenter weiterhin die Miete des Hartz-IV-Empfängers. In der Praxis sei dieser Extremfall, dass die Leistung komplett gestrichen werde, auch sehr selten. „Mir ist kein solcher Fall bekannt“, sagt Keller.
Darf ein Hartz-IV-Empfänger eigenes Vermögen besitzen?
Irrtum 3: Bevor es Hartz IV gibt, muss das gesamte eigene Vermögen aufgebraucht werden.
„Das stimmt nicht“, sagt Fachanwalt Christian Keller. Jeder, der Hartz IV beantragt, kann sogenanntes Schonvermögen geltend machen, das nicht aufgebraucht werden müsse, bevor es staatliche Hilfen gibt. „Für jedes vollendete Lebensjahr sind das 150 Euro“, erklärt Keller. Hinzu komme der gleiche Betrag pro vollendetem Lebensjahr des Partners, wenn dieser mit in der Bedarfsgemeinschaft lebe und ein Freibetrag von 750 Euro für „notwendige Anschaffungen“.
Die Altersvorsorge könne auch unter das Schonvermögen fallen, sagt Keller, aber nur wenn das Geld „unwiderruflich“ angelegt worden sei. Eine Lebensversicherung, die man sich ohne große finanzielle Verluste sofort auszahlen lassen könne, gehöre nicht zum Schonvermögen.
Auch eine eigene Wohnung kann geschützt sein, allerdings nur dann, wenn sie angemessen groß ist. „Wer in einer Villa lebt und Hartz IV beantragt, muss im Normalfall ausziehen und verkaufen“, sagt Keller. Bis der Verkauf realisiert sei, würde das Jobcenter meistens Darlehen gewähren.
Irrtum 4: Bevor ein Mensch Hartz IV bekommt, werden erst einmal enge Verwandte wie Ehegatten, Eltern oder Kinder zur Kasse gebeten.
Stimmt nicht. Dass Kinder für ihre Eltern oder Geschwister füreinander zahlen müssen, gebe es gar nicht, sagt Christian Keller. Und auch im umgekehrten Fall sei ein Zugriff auf das Vermögen der Eltern nur dann denkbar, wenn das Hartz-IV-beziehende Kind unter 25 Jahre alt ist und noch in der ersten Berufsausbildung.
Unter Umständen können getrennt lebende Eheleute füreinander zahlen müssen: „Wenn der eine sehr viel verdient und der andere nichts, dann versucht der Staat, sich die Hartz-IV-Leistungen zurückzuholen“, erklärt Keller.
Irrtum 5: Die meisten Hartz-IV-Empfänger wollen doch gar nicht arbeiten.
Das ist nicht mehr als ein an unzähligen Stammtischen unendlich oft wiederholtes Vorurteil. Eine aktuelle Umfrage der Bundesagentur für Arbeit kommt zu einem anderen Ergebnis: Ein Drittel der Hartz-IV-Empfänger habe einen Job, viele weitere kümmern sich um Angehörige.
Zudem bemühen sich laut der Umfrage 62 Prozent der Befragten selbst um einen Job – und warten nicht nur auf Angebote des Jobcenters. Christian Keller kann aus seiner eigenen Erfahrung bestätigen: „Die Gruppe der Hartz-IV-Empfänger ist sehr heterogen. Verallgemeinerungen funktionieren gar nicht.“
Gehört ein Internetanschluss zum Hartz-IV-Existenzminimum?
Irrtum 6: Hartz-IV-Empfänger bekommen einen Internetanschluss bezahlt.
Nein, das ist falsch. Zwar sind die Kosten für einen Internetanschluss bei der Festlegung des Hartz-IV-Regelsatzes beachtet worden, aber dabei wurde nur der Betrag berüclsichtigt, den Geringverdiener durchschnittlich für Internet ausgeben.
Weil viele von ihnen offenbar gar keinen Internetzugang haben, liegt dieser Betrag bei knapp drei Euro – viel weniger als ein Internetanschluss tatsächlich kostet. Experte Keller rät: „Wer Internet braucht, um sich nach Jobs umzugucken, kann das in den meisten Arbeitsämtern machen.“
Irrtum 7: Das Jobcenter bestimmt die angemessenen Wohnkosten. Ist die aktuelle Wohnung zu teuer, muss der Hartz-IV-Empfänger umziehen.
Grundsätzlich stimmt das, sagt Fachanwalt Christian Keller. Das bedeute aber nicht, dass man zwangsläufig umziehen müsse, wenn die Wohnung einen Quadratmeter zu groß oder zwei Euro zu teuer sei. In solchen Fällen sei es häufig so, dass Hartz-IV-Empfänger die Mehrkosten aus ihrem eigenen Vermögen oder dem Regelsatz bezahlen müssten.
Zudem muss niemand von jetzt auf gleich umziehen. „Das Jobcenter gewährt einem sechs Monate, um die Wohnkosten auf das geforderte Maß zu senken“, erklärt Keller. Ob dies durch einen Umzug in eine günstigere Wohnung oder durch Untervermietung eines nicht genutzten Raumes klappe, sei dem Antragsteller überlassen.
Wer umziehen müsse, um die Anforderungen des Jobcenters zu erfüllen, der hat Anspruch auf Umzugshilfe: „Das Jobcenter zahlt die notwendigen Auslagen für Renovierung, Transporter und ähnliches“, sagt Keller.
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Was darf ein Hartz-IV-Bezieher sich hinzuverdienen?
Irrtum 8: Wenn sich ein Hartz-IV-Bezieher Geld hinzuverdient, wird ihm dieser Betrag von seinen Bezügen abgezogen.
So einfach ist das nicht, sagt Christian Keller. Zunächst einmal gebe es einen Grundfreibetrag von 100 Euro. So viel könne jeder hinzuverdienen, ohne dass sich auf die staatlichen Leistungen auswirke.
Wer mehr hinzuverdiene, müsse auf einen Teil seiner Hartz-IV-Leistungen verzichten: „Wer einen 400-Euro-Job annimmt, darf davon 160 Euro behalten“, sagt Keller. Der Hartz-IV-Regelsatz werde zusätzlich dazu weitergezahlt.
Irrtum 9: Hartz-IV-Empfänger haben’s gut: Einfach mal in Urlaub fahren – und keiner hat etwas dagegen.
Irrtümer des LebensFalsch, sagt der Rechtsanwalt. Hartz-IV-Empfänger müssten sich immer für den Fall bereithalten, dass ihnen ein Job angeboten werde. „Konkret bedeutet das: Sie müssen einmal am Tag in den Briefkasten gucken“, sagt Keller. Einfach so in den Urlaub fahren könnten sie also nicht. Wer es trotzdem tut und in dieser Zeit ein Jobangebot verpasst, dem drohe eine Leistungskürzung.
Trotzdem müssen sich auch Hartz-IV-Empfänger nicht 365 Tage im Jahr in Bereitschaft halten. „Drei Wochen im Jahr können sie Urlaub machen“, erläutert Keller. Darüber müsse das Jobcenter aber informiert werden.
Irrtum 10: Hartz-IV-Empfänger sind alle schlecht qualifiziert und haben nicht einmal einen Schulabschluss.
Das ist Quatsch, wie die Umfrage der Bundesagentur für Arbeit belegt: 44 Prozent der Hartz-IV-Empfänger haben demnach eine abgeschlossene Berufsausbildung.
Fachanwalt Keller, der seine Kanzlei in Essen hat, bestätigt: „Da sind sehr viele gut qualifizierte Menschen dabei.“