Essen.
Der Skandal um ein Stahlkartell, das sich auf Kosten der Deutschen Bahn bereichert hat, weitet sich aus. Nach Recherchen der WAZ Mediengruppe haben interne Ermittler der Bahn festgestellt, dass es Preisabsprachen beim Verkauf von Schienen auch 2010 und 2011 noch gegeben hat.
Der Skandal um ein Stahlkartell, das sich auf Kosten der Deutschen Bahn bereichert hat, weitet sich aus. Nach Recherchen der WAZ haben interne Ermittler der Bahn festgestellt, dass es auch in den Jahren 2010 und 2011 verdächtige Preisbewegungen im Einkauf von Schienen gegeben hat, die auf Kartellabsprachen hindeuten. Bisher hieß es, das Kartell der „Schienenfreunde“ sei bereits 2008 zerbrochen.
Weiterhin heißt es aus Reihen der Bahn, es werde untersucht, in welcher Höhe Schadensersatz geltend gemacht werden könne. Darüber hinaus liegen dieser Zeitung Hinweise von ehemaligen Mitgliedern des Kartells vor, nach denen auch die Bahnen in der Schweiz und in Österreich Opfer illegaler Preisabsprachen geworden sein könnten. Derzeit ermitteln das Bundeskartellamt in Bonn und die Staatsanwaltschaft in Bochum wegen illegaler Preisabsprachen und Ausschreibungsbetrug.
Wie aus Reihen der Bahn zu hören ist, wird derzeit intensiv an einer Aufstellung des möglichen Schadens gearbeitet. Auf Basis einer bahninternen Preisformel sowie von Daten aus dem Schienenkartell lässt sich derzeit ein Gesamtschaden für den Zeitraum zwischen 2003 und 2008 in Höhe von rund 400 Millionen Euro errechnen, die das Kartell auf Basis der Absprachen zu viel erhalten haben könnte. Insgesamt lag der Umsatz der Bahn mit dem Kartell in dieser Zeit bei 1,5 Milliarden Euro.
Chefeinkäuferin soll schon 2008 vom Schienenkartell gewusst haben
Sollte die Deutsche Bahn Schadensersatz gegen die „Schienenfreunde“ durchsetzen, würde besonders der Bundeshaushalt profitieren. In der Regel bezahlt der Bund die Schienen für neue Trassen. Jeder Euro, der hier auf Basis von Absprachen zu viel gezahlt wurde, belastet den Haushalt. Sollte die Bahn Geld zurückbekommen, müsste dieses deshalb an den Bund überwiesen werden.
Offiziell will sich die Bahn dazu nicht äußern. Ein Sprecher sagte: „Wir arbeiten mit den Behörden bei der Aufklärung zusammen.“ Brisant wird diese Aussage, weil die Chefeinkäuferin der Deutschen Bahn Karin H. schon im Jahr 2008 von einem Abtrünnigen der „Schienenfreunde“ über das bestehende Kartell informiert worden sein soll. Warum wurde damals keine Anzeige erstattet? Die Bahn sucht eine Antwort.
Unterdessen versuchen die am Kartell beteiligten Unternehmen Schaden von ihren Häusern abzuwenden. Den Anfang machte der österreichische Staatskonzern Voestalpine. Nach eigenen Angaben hat das Unternehmen sich selbst beim deutschen Kartellamt angezeigt, um in den Genuss einer Kronzeugenregelung zu kommen. Demnach geht ein Unternehmen straffrei aus, wenn es aus eigener Kraft ein illegales Kartell aufklärt und die Beweise zur Verurteilung der anderen Teilnehmer liefert. Voestalpine: „Der Konzern rechnet aus heutiger Sicht mit einer Bußgeldbefreiung.“ Doch um in den Genuss der Regelung zu kommen, muss der Selbstanzeiger alle Schandtaten aufdecken, an denen er beteiligt war.
Hat das deutsche Kartell sogar international die Preise diktiert?
Und hier bestehen nach Recherchen der WAZ in Sachen Voestalpine Zweifel. Nach Auskunft mehrerer Zeugen klärte die Berliner Rechtsanwaltskanzlei Hogan & Harts Verantwortliche der Voestalpine bereits im Oktober 2007 über die Strafbarkeit ihres Tuns auf. Trotzdem machten sie weiter.
Darüber hinaus sollen im April dieses Jahres in deutschen Tochterunternehmen der Voestalpine Akten vernichtet worden sein. Die Hausdurchsuchungen durch das Bundeskartellamt und die Staatsanwaltschaft Köln fanden im Mai statt. Voestalpine bestreitet „vehement“, dass eigene Akten vor der Selbstanzeige mit Blick auf Kartellvergehen gereinigt worden seien.
Nachfragen nach personellen Konsequenzen lässt Voestalpine unbeantwortet. Dabei war der technische Koordinator der Preisabsprachen ein Mitarbeiter der Voestalpine-Tochter TSTG. Er trat unter den Alias-Namen „Hüter des deutschen Schienenpreises“ oder „Jedi“ auf. Sein Vorgesetzter hörte im Kartell auf den Namen „Bleichgesicht“.
Wie aus den Reihen ehemaliger Mitglieder des Kartells zu hören ist, übernahmen Einkäufer der österreichischen und schweizer Staatsbahnen die Preise, die in Deutschland von der Bahn für die Schienen gezahlt wurden – samt eines kleinen Aufschlages. „Die anderen Bahnen wussten, dass sie geringere Mengen abnehmen und deswegen höhere Preise zahlen mussten“, sagte ein Kartellmitglied. Damit hätte das deutsche Kartell sogar international die Preise diktiert.