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Der herzogliche Weihnachtskarpfen

Der herzogliche Weihnachtskarpfen

Dülmen-Hausdülmen. 

Der Weg aus dem Ruhrgebiet zum letzten großen Karpfenzüchter im Lande führt über die A 43 gen Norden und damit vorbei an Marl. Es ist der 18. Dezember und der pure Zufall, dass die letzte Schicht auf Auguste Victoria und unser Termin am Dülmener Teichgut des Herzogs von Croy auf denselben Tag fallen. Kein Zufall ist aber die Erwähnung der Zechenschließung an dieser Stelle, denn die Traditionen des Weihnachtskarpfens und des Bergbaus sind enger miteinander verknüpft als viele ahnen, sie verblassen nicht zufällig gemeinsam.

Es waren die Zuwanderer der allerersten Stunde, die Bergleute aus Osteuropa, die als eine ihrer Essgewohnheiten die in Polen vorzugsweise in Bier gekochten goldbäuchigen Schlammwühler mit ins Revier gebracht und hier als Festessen der Malocher verbreitet haben.

Ihren Nachfahren fällt es ein gutes Jahrhundert später immer schwerer, an frische Karpfen jenseits der wer weiß wie lange nicht mehr lebendigen Fischthekenware zu kommen, in der sich nur vor Weihnachten und Silvester vereinzelte dicke Spiegelkarpfen finden. Wer kann und halbwegs in Reichweite wohnt, fährt deshalb an den Rand des Ruhrgebiets, wo der ei­gentlich für seine Dülmener Wildpferde bekannte Herzog von Croy um die Wende zum 20. Jahrhundert Fischteiche anlegen ließ. Also zu der Zeit, als das Revier zum industriellen Zentrum Europas wuchs und Arbeiter aus Osteuropa in Massen anzog.

Viel hat sich hier im Ortsteil Hausdülmen in den vergangenen Jahrzehnten nicht verändert, versichert Dieter Schwarten, der Fischzuchtmeister der Croy’schen Verwaltung, ohne die Zigarre aus dem Mundwinkel zu lassen. Etwas aber schon: Als er hier vor 32 Jahren anfing, seien rund 100 Tonnen Karpfen im Jahr verkauft worden – heute noch knapp zehn. Vereinzelte Gastronomen gehören zu seinen treuen Kunden, Angelvereine, die hier Setzfische kaufen und eine zuletzt konstant gebliebene Zahl von Privatkunden, die den als Speisefisch aus der Mode gekommenen Karpfen zu schätzen wissen. Er selbst mag den am Boden nach Futter suchenden Dickfisch, natürlich, schafft es aber kaum, ihn der eigenen Familie schmackhaft zu machen. „Da will keiner mehr ran, zu viele Gräten. Die Leute wollen alles filetiert haben“, sagt Schwarten mit leicht verächtlicher Miene.

Als modriger Arme-Leute-Fisch wird der Karpfen heute gern verunglimpft und von den meisten ganzjährig verschmäht. Der deutsche Durchschnittsbürger gönnt sich an Heiligabend seit Jahrzehnten lieber Bockwurst und Kartoffelsalat. Da Schwarten weit und breit die einzige Karpfenzucht betreibt, hat er aber vor dem Fest gut zu tun und ist damit der Beweis dafür, dass die Tradition des Weihnachtskarpfens von einer kleiner werdenden Minderheit nach wie vor gepflegt wird. Sie kommen von weit her, gerade fährt Franz-Josef Tenkhoff aus Olfen an den Klarwasserteichen vor. „Zwei, drei Tage in klarem Wasser reichen, um den Beigeschmack wegzukriegen“, meint der Wirt.

Tenkhoff, der ein gutbürgerliches Restaurant betreibt, nimmt die Fische lebend mit und gönnt ihnen noch ein paar schlammfreie Tage, bevor sie auf den Tisch kommen. Sie alle sind vorbestellt, meist „von etwas älteren Gästen, die mal wieder Karpfen essen wollen“, verrät er. Zubereitet werden sie auf die beiden klassischen Arten „blau“ oder gebraten. So machen sie es seit Generationen, erzählt Tenkhoff und schwärmt vom „sehr schmackhaften Fisch“, der mittlerweile aber „etwas für Spezialisten“ geworden sei. Man müsse sich Zeit nehmen, allein schon wegen der im Fleisch sitzenden Y-Gräten. „Das ist vielen Gästen zu anstrengend. Man muss Karpfen mit Muße essen, das war zu langsameren Zeiten ganz normal, heute ist es das nicht mehr.“ Langsamere Zeiten – für manche sind die Weihnachtstage genau das noch immer.

15 Kilogramm Lebendgewicht

Es gibt Leichteres als 15 Kilo Lebendfisch abzuwiegen, die mächtigen Tiere mit ihren schillernden Spiegelschuppen zeigen sich vom Flehen der Mitarbeiter Holger und Manni, doch bitte mal still zu halten, ungerührt. Es sind dreijährige Karpfen zwischen 1,5 und 2,5 Kilogramm – das Kilo für 5,30 Euro. Platz genug zum Wachsen haben seine Karpfen, jeder 20 Kubikmeter Wasser. „Kein Nutztier bekommt so viel Lebensraum“, sagt er.

Unfreiwillig bekommen vor allem die Jungkarpfen mehr Platz als dem Teichwirt lieb ist. Sie werden im großen Teich gezüchtet, der einmal im Jahr abgelassen wird, um die Fische auf die kleineren Becken zu verteilen. Doch von den 50 000 je Hektar eingesetzten Brutfischen blieb in den letzten Jahren nur ein Bruchteil übrig. Der Rest ernährt die Kormorane, Silber- und Graureiher. Und den zum hiesigen Heubach zurückgekehrten Fischotter. „Die Vögel verursachen jedes Jahr einen Schaden von 200 000 Euro“, sagt Fischwirt Schwarten.

Deshalb würde sich die Karpfenzucht eigentlich nicht mehr rechnen. Zum Glück haben die von Croys einen Sinn für Traditionen und Tiere. Die herzogliche Familie gibt den Dülmener Wildpferden seit mehr als 150 Jahren einen Lebensraum. Zum Fang der Jährlingshengste kommen jedes Jahr Tausende Besucher nach Dülmen. Solch Spektakel bieten die Karpfen nicht. Dem Fischwirt ist es recht.