Am Nachmittag, nach zahllosen Telefonaten, da ahnte Stadtkämmerer Uwe Bonan, dass es Nachrichten gibt, die eine Eigendynamik entwickeln. Diese zum Beispiel: Die Stadt Mülheim ist seit gestern überschuldet. Bonan muss die direkt und indirekt gehaltenen 9,4 Millionen RWE-Aktien abwerten und zum Stichtag 31. Dezember 2013 in die Bücher stellen. Gegenüber dem bisherigen Ansatz aus fetten RWE-Jahren ist das eine rechnerische Differenz von 463 Millionen Euro. Selbst Straßen, Gebäude und echte Beteiligungen eingerechnet, hat die Stadt damit erstmals mehr echte Schulden als fiktive und reale Vermögenswerte, ganz genau 120 Millionen Euro mehr. Dass diese Zahl vorerst „ohne praktische Auswirkungen“ bleibt, wie Bonan nicht müde wurde zu betonen, wird womöglich wenig ändern. „Manche Nachrichten haben Symbolcharakter.“
Dabei ist die bilanzielle Überschuldung einer Stadt nicht mit der eines Unternehmens gleichzusetzen. Der Grund: Überschuldung hat in der Betriebswirtschaft als Indikator für Zahlungsunfähigkeit große Bedeutung – Kommunen aber können so gar nicht in Insolvenz gehen.
An den tatsächlichen Gegebenheiten ändert sich im Rathaus also nichts. Weder kommt der Sparkommissar, noch ist die Stadt nun kreditunwürdig oder der aktuelle Haushalt in Gefahr, obwohl auch der erneut ein Loch von 70 Millionen Euro aufweist. Bedeutung erlangt die Überschuldung, weil sie nach der Gemeindeordnung verboten und mithin zu beseitigen ist. Allerdings: Bonan geht wie alle anderen Kämmerer aus anderen, längst überschuldeten Städten wie Duisburg oder Oberhausen davon aus, dass dafür bis 2020 Zeit bleibt. Hektik und Kurzschlussreaktionen hält daher selbst das Land für unangebracht. Warum auch? Bund und Land arbeiten an einer Neuordnung der Kommunalfinanzen, Milliardenhilfen sind im Berliner Koalitionsvertrag zugesagt, wenn auch verschoben worden, und auch die Idee eines Altschuldenfonds liegt längst auf dem Tisch. „Welchen Sinn macht es“, fragt nicht nur Bonan, „Strukturen zu zerschlagen, wenn doch Rettung nah ist?“