Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen. Kaum jemand weiß das so gut wie Arno Klare. Wenn der 61-jährige Sozialdemokrat Entspannung sucht, vertieft er sich gerne und ausdauernd in die Gedankenschärfe der Philosophie, landet dann öfter bei Hegel oder, siehe oben, bei Ludwig Wittgenstein. Das hilft in der praktischen Politik nicht immer weiter, weil Politik oft heißt, ungelegte Eiere als Omelette zu verkaufen. Umso bemerkenswerter ist aber, dass der Bundestagsabgeordnete in letzter Zeit öfter und sehr gezielt über etwas redet, das nun wirklich in der Ferne und schon von den Dimensionen her eigentlich im Ungewissen liegt: den Altschuldenfonds.
In Berlin, wo am Montag und Dienstag 15 Stadtoberhäupter der Region mit Regierung und Bundestag über ihre Nöte sprachen, fand Klare für das Thema in Oberbürgermeisterin Dagmar Mühlenfeld eine Partnerin. Mühlenfeld hievte das Anliegen, das eigentlich gar nicht auf der Tagesordnung der Gespräche gestanden hatte, auf diverse Sitzungstische, mit dem durchweg selben Ergebnis: eine gute Idee, vielleicht die einzige, um der Verschuldung Herr zu werden.
Klare macht diese Erfahrung, seit er in Berlin ist, auch: „Was sonst, das sagen fast alle, in fast allen Parteien.“ Sie sagen es leise. Aber immerhin, das ist im politischen Berlin schon recht viel.
Worum geht es?
Ganz einfach. Deutschland hat zu viele Schulden. Um genau zu sein und um das Statistische Bundesamt zu zitieren:
der Bund schiebt Schulden von 1270 Milliarden Euro vor sich her und zahlt dafür im Jahr rund 50 Milliarden Euro nur an Zinsen.
die Länder haben 620 Milliarden Euro Schulden, die sie mit 21 Milliarden Euro per anno belasten und
die Gemeinden stehen mit 133 Milliarden Euro in der Kreide, was 4,5 Milliarden Euro im Jahr kostet.
Summa summarum: 2032 Milliarden Euro Schulden, fast 75 Milliarden Euro nur an Zinsausgaben.
Das ist nach Auffassung fast aller Volkswirtschaftler und auch der EU selbst für eine Wirtschaftsmacht zu viel, weil irgendwann nur Geldentwertung Entspannung schafft.
Wie aber von den Schulden runterkommen?
Es gibt dazu, wie Klare sagt, historische Vorbilder. Es gab Fonds. Aktuell den Fonds Deutsche Einheit oder den Kriegslastentilgungs-Fonds, der es auf stolze 60 Jahre Laufzeit brachte. Die Idee ist immer, die Schulden zu bündeln, Zins und Tilgung zu entkoppeln und mit dem Faktor Zeit zu arbeiten.
In der Politik haben viele dieses Muster als hilfreich erkannt, in unterschiedlichen Varianten. Die Verwaltungshochschule Speyer hat sich um die Ausgestaltung verdient gemacht, es gab erste praktische Erprobungen auf Länderebene, zuletzt in Rheinland-Pfalz, und jüngst war es das selbst hoch verschuldete Hamburg unter Regierungschef Olaf Scholz (SPD), das ein Modell dazu ausgearbeitet hat, allerdings nur zwischen den größten Schuldnern, dem Bund und den Ländern. Wissenschaftler wie Rudolf Hickel und Bundestagsabgeordneten haben den Ansatz schließlich um die Kommunen erweitert und nun liegt etwas auf dem Tisch, was Mühlenfeld eine „echte Chance“ nennt.
Was aber ist die konkrete Idee?
Vereinfacht gesagt: Die 2032 Milliarden Euro kommen in einen Topf. Der Bund zahlt danach die kompletten Zinsen (allein schon, weil er günstigere Konditionen am Markt erhält), Länder und Gemeinden zahlen auf Jahrzehnte gestreckt nur noch Tilgung; und zwar nach dem Maß der Schulden, die sie selbst eingebracht haben.
Was hieße das für Mülheim?
Die Stadt Mülheim schaut, mitsamt ihren Beteiligungen, auf einen Schuldenberg von 1,2 Milliarden Euro. Dafür zahlt die Stadtkasse jedes Jahr 29 Millionen Euro Zinsen und 27 Millionen Euro an Tilgung. Mit anderen Worten: Wenn vom Altschuldenfonds die Rede ist, redet man in Mülheim, Pi mal Daumen, von einer Halbierung der Kreditkosten. Das ist, zum Vergleich, ein Zehntel aller Steuereinnahmen und etwa hundert Mal mehr, als die Ratsfraktionen in diesem Jahr im Haushalt eingespart haben.
Wenn es so einfach ist, warum macht man es dann nicht einfach?
Weil der Zündstoff im Detail steckt. Einige Beispiel dafür: Wohlhabende oder gar schuldenfreie Städte hätten von der staatlichen Großanstrengung keinen Ertrag , wären sogar indirekt Zahler. Sie müssten mithin gleichsam entschädigt werden. Zweiter Punkt: Ein idealer Zeitpunkt für einen solchen Generationenfonds wäre um das Jahr 2020. Dann greift die Schuldenbremse für die meisten Länder, der Bund ist seiner Schuldenaufnahme dann seit vier Jahren schon empfindlich beschränkt und der Solidarpakt wäre ausgelaufen. Dessen Milliardenaufkommen, zuletzt 13 Milliarden Euro, kalkulieren manche schon mit ein, was die Rechnung deutlich freundlicher ausfielen ließe, andere, jüngst die CSU, sehen das kritisch. Es gibt also noch viel zu verhandeln.
Und woher rührt dann die Hoffnung?
Dass eben genau das jetzt geschieht. Es wird verhandelt. Weitgehend unbemerkt haben sich gestern die Fraktions-Arbeitsgruppen der großen Koalition konstituiert. „Und die Fondsidee ist in der Arbeitsgruppe, die sich mit der anstehenden Föderalismusreform beschäftigt, fest verankert“, sagt Arno Klare. Mit anderen Worten: Das Thema ist auf der Tagesordnung.
Was könnte Mülheim jetzt also tun?
Gedankliche Vorarbeit leisten. Denn: So verlockend die Aussicht ist, den Schuldenberg abzutragen, den man aus eigener Kraft nie und immer abtragen könnte, die Aussicht hat ihren Preis, darauf wies Oberbürgermeisterin Dagmar Mühlenfeld vorsorglich schon mal hin: „Wenn der Fonds käme und wenn er Sinn machen soll, dann müssen wir spätestens von da ab öffentliche Einnahmen und Ausgaben im Einklang haben.“ Also: keine neuen Schulden mehr machen.
Das ist ein so langfristiges wie ehrgeiziges Ziel. Nur zur Erinnerung: Am Ende des Jahres 2014, so ist die Planung Stand heute, wird in der städtischen Haushaltskasse ein Loche von 90 Millionen Euro zurückgeblieben sein.
Aber noch ist ja Zeit….