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Warum im Fall des Polizistenmörders Michael Berger so vieles unklar ist

Warum im Fall Michael Berger so vieles unklar ist

Bild Ruhrnachrichten
Michael Berger erschoss vor 16 Jahren erst drei Polizisten. Anschließend beging er Suizid. Der Fall gibt auch heute noch Rätsel auf.

Dortmund. 

Michael Berger – dieser Name steht für eine der blutigsten Taten gegen die Polizei in NRW. Vor 16 Jahren erschoss Berger drei Polizisten und tötete sich anschließend selbst. Die Umstände sind bis heute nicht vollständig aufgeklärt. In den fehlerhaften Ermittlungen lassen sich bemerkenswerte Auffälligkeiten finden. Das ist ihre Geschichte.

Diese Reportage können Sie auch hören (Sprecher: Norbert Hoffmann, Radio 91.2):

Als der Neurologe in der Nacht vom 14. auf den 15. Juni 2000 eher zufällig Radio hört, kann er nicht glauben, was er da vernimmt: Drei Polizisten sind erschossen worden, der Mörder hat sich dann selbst getötet. Der Mediziner hört den Namen des Täters und kann es nicht glauben: So hieß ein Patient von ihm. Der Mann, eine solche Tat? Der Arzt kann es nicht glauben.

Am 14. Juni 2000 erschoss der Neonazi Michael Berger drei Polizisten, anschließend tötete er sich selbst. Diese Tat gilt bis heute als Einzeltat eines Rechtsradikalen, der psychisch krank war und unter Druck geriet, weil er einer Streifenwagenbesatzung auffiel, da er nicht angeschnallt war. Daraufhin, so die offizielle Lesart, begann er seinen Amoklauf.

Beamtin schwer verletzt

Er tötet gegen 9.20 Uhr einen Polizisten, verletzt eine weitere Beamtin schwer und flieht mit seinem 3er BMW mit 170 PS. Gegen 10.30 Uhr hält er an einer Kreuzung in Waltrop, obwohl die Ampel für ihn grün zeigt. Er exekutiert zwei weitere Polizisten, die dort in ihrem Streifenwagen sitzen, und setzt seine Fahrt fort. Am Abend wird sein Wagen auf einem unbefestigten Feldweg an einem Waldstück in Olfen gefunden. Berger hat sich erschossen, seine Kugel drang an der rechten Schläfe ein und trat auf der linken Kopfseite wieder aus.

„Republik der Strolche“ auf der Heckscheibe

Dass der Polizistenmörder Berger ein Rechtsradikaler ist, könnte den Polizisten auffallen, als sie seinen Wagen finden: Auf dem Armaturenbrett ist der Wahlspruch der Waffen-SS („Meine Ehre heißt Treue“) samt Totenkopf angebracht. Auf dem Heck ein Aufkleber der damals von Rechtsradikalen favorisierten Bekleidungsmarke „Lonsdale“, dazu in der Mitte der Heckscheibe, relativ weit unten, der Schriftzug „Republik der Strolche“. So heißt das 1995 erschienene und schnell verbotene Album der rechtsradikalen Band „Landser“. Diese Band genießt aufgrund ihrer radikalen Texte bis heute Kultstatus in der an radikalen Bands nicht gerade armen Szene. Mehrere CDs finden sich im Fußraum, neben „Anton aus Tirol“ und „Blockbuster Oldies“ auch Scheiben von rechtsradikalen Bands. Berger, so viel kann man schon auf den ersten Blick erkennen, hat sich nicht bemüht, seine Gesinnung auch nur ansatzweise zu verschleiern. Weiter finden sich im Wagen Psychopharmaka, unter anderem das starke Antidepressivum Tavor.

Berger war vor der Tat Patient in der Psychiatrie in Dortmund-Aplerbeck. Er hatte sich am 9. Mai 2000 auf eigenen Wunsch von seinem Neurologen einweisen lassen. Immer mal wieder war er in den Jahren zuvor bei dem Mediziner aufgetaucht. Der sagt heute, sein damaliger Patient habe sich jedes Mal als Notfall ausgegeben. „So akut war das meiner Meinung nach aber nicht.“ Er habe, sagt der Arzt vor dem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss des Landtags, nie ganz genau gewusst, was Berger von ihm wollte. Dieser Ausschuss beschäftigt sich mit den Taten des Nationalsozialistischen Untergrundes im Bundesland, er will mögliche Unterstützer ermitteln und auch Fälle wie den von Berger beleuchten.

Der Patient Berger, so der Mediziner, sei entgegen seiner Statur mit 1,91 Metern Länge und seinem „braungebrannten Manager-Auftreten“ weich gewesen. Und depressiv. Auch habe er des Öfteren suizidale Tendenzen geäußert. Der Arzt verschrieb ihm 1999 das Antidepressivum Tavor.

Von den Taten Bergers erfährt der Mediziner nachts im Radio und glaubt zunächst nicht, dass das sein Patient gewesen ist. Ein Suizid sei vorstellbar gewesen, das schon, aber eine solche Tat? Unfassbar. Radikale Tendenzen, Hass auf die Gesellschaft oder auf Polizisten? Davon hatte der Arzt von seinem Patienten noch nie gehört.

Die ermittelnde Mordkommission schaltet aufgrund der rechtsradikalen Devotionalien – Dutzende weitere werden noch in der Wohnung des Täters gefunden – den Staatsschutz ein.

Es wird eine sogenannte BAO (Besondere Aufbauorganisation) gegründet, die auch interessiert, woher das umfangreiche Waffenarsenal kommt, über das Berger verfügt: diverse scharfe Revolver mit teilweise verschiedenen Kalibern, eine Handgranate, ein Schnellfeuergewehr – hierbei handelt es sich um eine AK 47 Kalaschnikow samt Munition. Die Beamten finden nicht alle Waffen sofort. Einige liegen im Wagen, einige in der Wohnung, die AK 47 wird erst Tage später in einer Dachschräge in seinem Elternhaus entdeckt. Das Gesamtbild zeigt, dass der damals 31 Jahre alte Mann in den Krieg hätte ziehen können. Was er letztlich ja auch tat. Eine solche Tat hatte die Republik bis dahin noch nicht erlebt.

Ostermontag bei den Eltern in Selm

Während Berger noch auf der Flucht ist, geschehen viele Dinge gleichzeitig: Eine Ringfahndung wird ausgelöst, das Polizeipräsidium Recklinghausen unterstützt die Dortmunder Kollegen am Tatort in Waltrop. Hubschrauber in der Luft und Polizisten auf der Straße. Unter anderem kommen sie am Nachmittag nach Selm, hier wohnen die Eltern von Michael Berger. Wo ihr Sohn aktuell ist, wissen sie nicht. Sie haben ihn zuletzt am Ostermontag in Selm gesehen. Sie zeichnen den Beamten das Bild eines jungen Mannes auf, der nicht so recht zurechtkommt mit der Welt, aber prinzipiell ein netter Kerl sein könnte. Mittlere Reife, Ausbildung, anschließend zur Bundeswehr, noch während des Grundwehrdienstes verpflichtet er sich für vier Jahre. Spätestens danach lief es nicht mehr richtig rund für Berger: Seine Eltern erzählen von einer Partnerin ihres Sohnes, die er in seiner Wohnung mit einem Polizisten im Bett erwischt habe.

Wechselnde Jobs, Arbeitslosigkeit, 1995 muss er wieder zurück zu seinen Eltern nach Selm. Dafür hat er eine Partnerin, sogar von Heirat ist die Rede. Dann irgendwann wieder eine Festanstellung in Dortmund bei einem BMW-Händler. Gutes Geld und eine eigene Wohnung. Im Januar 2000 sei das Arbeitsverhältnis dann aber einvernehmlich beendet worden. Und vor Kurzem kam er in die Psychiatrie. Er habe den Eltern gegenüber angegeben, dass er nicht mehr könne, alles breche über ihm zusammen. Er habe keine Arbeit mehr und kein Geld. Ansonsten: Tierlieb sei er, einsam habe er gewirkt, aber fröhlich. Politisch sei er rechts angehaucht.

So, durch diesen Hinweis auf einen möglichen Groll gegen Polizisten und die Zeit in der Psychiatrie, entsteht der erste Eindruck eines Polizisten hassenden Verwirrten, der Amok gelaufen ist.

Es gibt aber Fehler in derAussage der Eltern: Das letzte Arbeitsverhältnis Bergers im Autohaus endete keineswegs einvernehmlich. Der Trennung war ein Rechtsstreit vorausgegangen. Zweifelhaft auch die Geschichte, Berger habe eine Partnerin mit einem Polizisten im Bett erwischt. Diese Frau wird später der Polizei versichern, sie habe Berger während ihrer halbjährigen Beziehung Anfang der 90er-Jahre nicht betrogen. Sie sei allerdings zuvor mit einem Polizisten liiert gewesen.

Man kann den Eltern keinen Vorwurf machen: Eltern sehen manche Dinge nicht, wollen sie nicht sehen oder wissen sie einfach nicht.

Für Ermittlungsbehörden sollte das nicht gelten. Der eingeschaltete Staatsschutz gibt an die Mordkommission folgende Informationen weiter: Berger sei in der DVU (Deutsche Volksunion) gewesen und habe „schriftliches Interesse“ an der NPD geäußert. So sagt es der damalige Leiter der Mordkommission im April 2016 in Düsseldorf aus. Auch der Beamte S., heute 55 Jahre alt, ist als Zeuge im nordrhein-westfälischen NSU-Untersuchungsausschuss geladen. Das Bild, das S. von den Ermittlungsarbeiten im Fall Berger liefert, ist desaströs und lässt sich in einem Satz des Beamten zusammenfassen: „Viel haben wir nicht über ihn herausbekommen“.

Herkunft der Waffen – unbekannt

Nicht herausbekommen wurde also bis heute, woher die Bewaffnung von Berger stammte. Eine sogenannte Verkaufswegefeststellung wurde veranlasst, sie blieb ergebnislos. Weitere Untersuchungen seien, so ein Vermerk der Staatsanwaltschaft, nicht notwendig, da die Herkunft der Waffen für das Verfahren nicht weiter relevant sei.

Nach der Tat tauchten in Dortmund „3:1 für Deutschland – Berger war ein Freund von uns“-Flyer auf. S. kann sich daran erinnern. Veranlasst habe er aber nichts, das sei nicht Aufgabe der Mordkommission gewesen.

Warum die beiden Brüder Bergers nicht vernommen wurden, weiß S. nicht mehr. Und warum auch die letzte Freundin von Berger nicht vernommen worden sei, wollen die Ausschussmitglieder wissen. S. erwidert, es sei eine Freundin vernommen worden. Offensichtlich war das die Ex-Freundin – die, die laut Aussage der Eltern Berger vor vielen Jahren mal betrogen hatte. Die andere Freundin – die, die viel länger mit Berger zusammen war – findet sich überhaupt nicht in den Ermittlungsakten der Polizei. Keine Vernehmung, nirgends.

Ein ähnlicher Name an einem falschen Wohnort, der findet sich. Aufgefallen war das erst gute 15 Jahre nach der Tat, als der Düsseldorfer Ausschuss die Frau, die da in den Akten als Freundin stand, eingeladen hatte. Diese Frau kannte Michael Berger gar nicht, auch war sie erst viele Jahre nach der Tat zum ersten Mal in NRW.

Der Beamte S. wird von den Ausschussmitgliedern gefragt und angegangen. Es wird ihm vorgehalten, dass man bei einem dreifachen Polizistenmord, bei drei toten Kollegen, doch brennen müsste, diese Tat aufzuklären. „Da muss man doch einen dreifachen Ehrgeiz entwickeln“, sagt ein Ausschussmitglied schließlich. Das gehe ihm, sagt S., nicht anders.

Die Fragen, die nach dieser Anhörung im Raum stehen bleiben, sind:

  • Wollten die Beamten nicht?
  • Konnten sie nicht?
  • Oder konnten sie nicht, weil ihnen Informationen vorenthalten wurden?

„Ich kannte den gar nicht“, sagt Georg A.. Er war ab 1998 für drei Jahre Leiter des Kriminalkommissariats 1 in Dortmund. Das KK1 ist beim polizeilichen Staatsschutz zuständig für die Bekämpfung des Rechtsextremismus. „Erst durch die Ermittlungen der Mordkommission wurde uns bekannt, dass er eine rechte Gesinnung hatte.“ Viel mehr scheint A. bis heute nicht über den Fall zu wissen.

Die Vernehmung des Mannes, der 2009 als Kriminalrat in den Ruhestand ging, ist, man muss es so nennen: eine Farce. A. kann sich, so sagt er vor dem Ausschuss, an nichts erinnern.Abgesehen von Siegfried Borchardt – über viele Jahrzehnte Galionsfigur der rechten Szene im Ruhrgebiet -, den nennt er „Siggi.“ Sonst kennt er nach eigener Aussage nichts und niemanden mehr. Nicht den „Nationalen Widerstand Ruhrgebiet“. Nicht den Szenetreff „Schützeneck“. Er erinnert sich an überhaupt nichts. Das alles sei für ihn abgeschlossen.

Den Namen Berger habe er vergessen. „Ich kann mich auch an andere Verbrecher nicht erinnern. Warum auch?“, fragt der Beamte, der sein Leben lang in Dortmund gearbeitet hat. Und der Leiter einer Abteilung war, die sich federführend um den Mord an drei Kollegen hätte kümmern müssen.

Ausschussvorsitzender bricht Befragung ab

Dem Ausschussvorsitzenden Sven Wolf (SPD) platzt irgendwann der Kragen. Erst unterbricht er die Befragung, dann bricht er sie ganz ab. Andere Ausschussmitglieder, ebenfalls Polizisten, sprechen von „Fremdschämen“ und „Unter den Tisch kriechen wollen“. Und: Man müsse sich, wenn A. so gearbeitet hätte, wie er ausgesagt habe, nicht wundern, dass Dortmund Ende der 90er-Jahre einen derart starken Zulauf von Rechtsradikalen hatte und sich im Laufe der Jahre zu ihrem Zentrum in Westdeutschland entwickelte. Angesichts der historischen Dimension der Taten Bergers ist die vermeintliche Amnesie des heute 67-Jährigen in der Tat schlicht unerklärlich. Hinweise auf eine mögliche Erkrankung des Zeugen A. lagen dem Ausschuss nicht vor.

Nach der Vernehmung von A., der vor dem Ausschuss nichts Substanzielles beitragen konnte, wird A. noch länger mit vier Mitarbeitern des Innenministeriums vor dem Landtag stehen und diskutieren. Hier scheint er deutlich gesprächiger.

Dass die Kommunikation zwischen Mordkommission und Staatsschutz eventuell nicht funktionierte, ist die eine Sache. Nach mehreren Ausschusssitzungen ist inzwischen aber auch klar, dass tatsächlich existente Informationen des Staatsschutzes nicht weitergegeben wurden. So war bereits vor den Taten im Juni 2000 klar, dass Berger Teil der rechtsradikalen Szene in Dortmund war.

Sein Wagen, der BMW, war den Staatsschützern bei Treffen in der in der Nordstadt gelegenen Kneipe „Schützeneck“ aufgefallen. Das „Schützeneck“ war bis zu seiner Schließung das zentrale Sammelbecken der Szene im Ruhrgebiet.

Nach den Taten wird die Verbindung Bergers in das rechtsradikale Milieu noch viel deutlicher. In seinem Handy finden sich diverse Telefonnummern von Mitgliedern des „Nationalen Widerstandes Ruhrgebiet“. In seinen Notizen finden sich weitere Nummern, Berger war darüber hinaus Teil einschlägiger Telefonketten. Insgesamt hatte Berger nachweislich Kontakt zu gut 20 Neonazis.

Zwei junge Mädchen melden sich einen Tag nach der Tat mit ihrem Lehrer bei den Beamten. Sie haben, geben die beiden Mädchen an, Kontakt zu Berger gehabt. Und jetzt Angst, dass ihre Eltern davon erfahren. Im „Schützeneck“ habe man sich gesehen. Als die Kneipe geschlossen wurde, zog die Szene Anfang 2000 in die „Poststube“ um. Hier habe sich der Kontakt zu Berger intensiviert, man sei häufiger mit ihm durch Dortmund gefahren und auch bei ihm daheim gewesen. Ein Gewehr habe an der Wand gehangen, schwere Patronen hätten auf dem Tisch gelegen. Eines der beiden Mädchen von damals ist heute mit einem der zentralen Neonazis von Dortmund verheiratet.

Schießübungen in den Rieselfeldern 

Ihre Aussagen von damals stehen im Widerspruch zur Aussage von Sebastian Seemann. Auch er war kurz nach den Taten Bergers vernommen worden und hatte angegeben, Michael Berger sei immer nur alleine in der rechtsradikalen Szene unterwegs gewesen. Die beiden haben, so sagt es Seemann, sich mal gemeinsam zu Schießübungen getroffen und da auch mit einer Kalaschnikow geschossen. Die Beamten machen sich auf die Suche und finden den Ort, wo geschossen wurde – in den Rieselfeldern in Selm. Patronenhülsen liegen noch herum. Im dort zuständigen Polizeipräsidium Recklinghausen hatte es zuvor Beschwerden gegeben, Anwohner hatten von Schussgeräuschen berichtet. Ein Jäger meinte, sogar ein Schnellfeuergewehr gehört zu haben.

Seemann, das weiß man heute, entwickelt sich zu einer der zentralen rechtsradikalen Figuren in Dortmund. Er ist schwerkriminell, dealt mit Drogen und Waffen, hat beste Kontakte in die belgische Szene und organisiert Konzerte. Außerdem ist er Teil der C18-Szene rund um die Dortmunder Neonazi-Band Oidoxie.

C18 ist ein militantes Netzwerk, das den bewaffneten Kampf gegen das System propagiert. „Leaderless Resistence“, der führerlose Widerstand, ist ihr Motto: Einzeltäter oder kleine, sich nicht kennende Zellen, sollen unabhängig voneinander agieren. Die Parole lautet: Taten statt Worte.

Der Gedanke existiert erst seit Mitte bis Ende der 90er-Jahre in der Szene, die den Staat als System begreift, das es anzugreifen gilt, man befindet sich mit ihm im Krieg und dementsprechende Vorbereitungen laufen. Schießübungen, die Verbreitung dieses Gedankenguts über eigene Postillen, eine extrem gute Vernetzung über das gesamte Bundesgebiet.

Bereits vor den Taten Bergers hatte es einen Polizisten gegeben, der von einem Rechtsradikalen erschossen wurde. Dieser Rechtsradikale heißt Kay Diesner, er stammt aus Ostberlin. Am 19. Februar 1997 schießt er mit einer sogenannten „Pumpgun“ den Buchhändler einer linken Buchhandlung nieder. Dann flieht er mit seinem Kampfhund „Willi“.

Vier Tage später wird er von zwei ahnungslosen Polizeibeamten auf einem Autobahnparkplatz in Schleswig-Holstein kontrolliert. Diesner erschießt einen von ihnen und verletzt den zweiten schwer. Nach der Tat wird er zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Er sitzt bis heute ein.

Die Frage, ob rechtsextreme Organisationen eine Rolle in Diesners Verbrechen gespielt hatten, blieb offen. Der Staatsanwalt schätzte ihn vor Gericht als „Ein-Mann-Terrorzelle“ ein.

Neonazis fordern nach seiner Verurteilung die Freilassung Diesners. Mit am glühendsten wird Diesner aus dem Sauerland heraus verteidigt. Die SAF, die „Sauerländer Aktionsfront“ – ein Sammelbecken von bis zu 60 rechtsextremen Neonazis – verteidigt Diesner mit martialischen Worten. In einem Text mit der Überschrift: „Kay Diesner – Kriegsgefangener des Systems“. Er habe, schreibt die SAF, in Notwehr gehandelt. Und begründet das unter anderem so: „Wer sich aber als Polizist in den Dienst eines Staates stellt… kannte das Risiko… Wir sind Revolutionäre. Und das System führt Krieg gegen uns, um unsere gewaltlose politische Agitation zu verhindern…“

Beerdigung läuft aus dem Ruder

Die SAF hatte beste Kontakte nach Dortmund, als zwei ihrer Anführer – darunter ein V-Mann des Verfassungsschutzes – bei einem Autobahnunfall im November 1997 ums Leben kommen, trifft sich das Who is who der Szene auf dem Winterberger Friedhof zur Beerdigung. Darunter auch Siegfried Borchardt, in Dortmund bekannt als SS-Siggi. Auch gibt es Hinweise, dass Berger dabei war.

Bei der Beerdigung kommt es zu Straftaten, an vorderster Front dabei ist Michael Krick. Er wird verurteilt, zieht anschließend nach Dortmund. Bei ihm finden Polizisten später die „3:1 für Deutschland – Berger war ein Freund von uns“-Flyer. Auch Krick war im „Schützeneck“ unterwegs. Wie Borchardt. Wie Berger. Wie Seemann.

Seemann ist nicht die einzige Person, die die Kalaschnikow Bergers nachweislich zu Gesicht bekommt. Ein Freund Bergers aus damaliger Zeit gab 2000 bei Vernehmungen an, die Waffe zu kennen – am vergangenen Freitag, vor dem Ausschuss, kann er sich daran nicht mehr erinnern.

Im Nachlass von Berger findet sich das Emblem eines Dortmunder Schießsportvereins. Gegründet hatte der sich 1993, aufgelöst worden war er 1997. Sinn und Zweck des Vereins bestand im Schießen mit Großkaliberwaffen. Der Vereinsvorsitzende wird einen Tag nach der Tat befragt und gibt Erstaunliches zu Protokoll: Er habe Berger ungefähr ein Jahr vor der Tat im Autohaus kennengelernt. Man sei unverfänglich ins Gespräch gekommen und habe sich schließlich über Waffen unterhalten. Berger habe ihm gesagt, dass er Waffen besitze. Eine 9mm-Pistole und eine Kalaschnikow. Diese Kriegswaffe habe ihm Berger dann auch gezeigt. Sie lag im Kofferraum seines Autos. Der Vereinsvorsitzende habe, sagt er, Berger daraufhin für verrückt erklärt und ihm gesagt, dass er mit der Sache nichts zu tun haben wolle. Dennoch habe er ihm bei seinem nächsten Besuch im Autohaus den Stoffaufkleber seines ehemaligen Vereines mitgebracht.

Es fällt einem, wenn man sich diese Aussage betrachtet, kein einziger guter Grund ein, warum ein Mann, der sich gut mit Waffen auskennt, einem „Verrückten“ mit einer Kalaschnikow im Kofferraum das Emblem seines alten Vereins mitbringt. Nur viele gute Gründe, warum er das nicht tun sollte. Die Beamten, so notieren sie es, halten die Aussage des ehemaligen Vereinsvorsitzenden für glaubwürdig. Auf eine genauere Betrachtung des Vereins und seiner Mitglieder verzichten sie daher. In einem Fall, bei dem drei ihrer Kollegen erschossen wurden und bis heute unklar ist, woher der Täter die Waffen hatte.

Acht Neonazis auf einem Foto

Auch bei Berger gefunden wird ein Foto, darauf acht Neonazis. Drei Frauen, hockend. Und fünf Männer, stehend. Sie alle vor einer Hakenkreuzfahne, den Hitlergruß zeigend. Drei Personen sind mittlerweile bekannt, eine von ihnen ist Michael Berger. Wer die anderen fünf sind, wurde nie geklärt.

Und bis heute nicht geklärt ist, was Berger in der Zeit zwischen der Tat in Waltrop und seinem Tod in Olfen eigentlich genau gemacht hat.

In den Tagen nach den Morden sind sie bundesweit bestimmendes Thema, die Aufregung ist groß. Der zuständige Staatsanwalt Dr. Heiko Artkämper verkündet, Bergers „Zugehörigkeit zur rechten Szene sei nicht tatursächlich“ gewesen.

Der damalige NRW-Innenminister Fritz Behrens spricht von der „schwärzesten Stunde der nordrhein-westfälischen Polizei“. Tausende Polizisten versammeln sich zu einer zentralen Trauerfeier in Dortmund.

Der Spiegel berichtet von einer möglichen Vorbereitung eines rechtsterroristischen Anschlags, an dem Berger beteiligt gewesen sein könnte. Dann hört man davon nichts mehr.

Der Privat-Sender RTL gräbt die Ex-Freundin aus. Die, von der er lange getrennt ist. Er sei Polizeihasser gewesen, sagt die Frau dem Sender.

Depressionen, Alkohol, Cannabis

Erst allmählich wird es wieder ruhiger. Langfristig setzt sich das Bild durch, dessen Konturen schon am Anfang gezeichnet worden sind: Berger, ein psychisch kranker Polizeihasser, der sich aus Angst vor einer Verkehrskontrolle in die Enge getrieben gesehen habe und daher Amok lief.

Dass Berger die Polizei gehasst habe, sagt am vergangenen Freitag auch die letzte Partnerin Bergers aus. Auch diese Frau berichtet von Depressionen bei Berger, dazu von Alkohol und Cannabis. Zehn Jahre sei sie mit Berger liiert gewesen. Etwa ein Jahr vor der Tat sei die Beziehung zu Ende gewesen. Sie sei von der Polizei nie vernommen worden. Was sie aber noch vage weiß, ist, dass Berger nach ihr noch eine Freundin gehabt habe. Und die sei wiederum gleichzeitig mit einem Polizisten liiert gewesen.

Es tauchen in dieser Geschichte sehr viele Frauen auf, die mal was mit Polizisten gehabt haben sollen, damit aus einem Täter ein Polizistenhasser wurde.

Vielleicht ist das einfach so bei einer Tat, die so lange her ist, dass sich Dinge verselbstständigen, etwas dazugestrickt wird oder sich in der Erinnerung verändern. Menschen sind Menschen, das kann passieren. Aber es gibt hier Dinge, die sich einfach nicht erklären lassen: Die angebliche Unkenntnis der politischen Ermittler über Berger ist schwer vorstellbar, aber möglich. Doch der fehlende Aufklärungswille nach der Tat ist nicht erklärbar. Die Akte wurde einfach irgendwann geschlossen, ohne dass wesentliche Hintergründe ermittelt waren. Der Täter war tot.

Spiegel Online veröffentliche im November 2011, nach Bekanntwerden des NSU, einen Text über Berger mit der stimmigen Überschrift: „Der ewige Verdacht“. In ihm geht es um die Frage, ob Berger ein V-Mann des Verfassungsschutzes war. Das Innenministerium dementierte das schnell. Doch nicht nur das Innenministerium hat V-Leute unter den Neonazis. Es sind angebliche Anwerbeversuche des MAD (Militärischer Abschirmdienst) von Neonazis im Ausschuss in Düsseldorf bekannt geworden. Und auch der Dortmunder Staatsschutz verfügt über Quellen in der Szene, es sind nicht wenige. Einer, der selber einewar, sagt heute, der Staatsschutz habe damals „alles angeworben, was er bekommen konnte“.

Die V-Mann-Theorie

Es ist nur eine Theorie, dass Berger V-Mann war, aber wenn man ihr folgt, ergibt vieles einen Sinn. Denn einen Mann bezahlt und als Zuträger genutzt zu haben, der später eigene Kollegen erschoss, das wäre in der Tat ein Motiv, das man verbergen müsste.

Für den Düsseldorfer Ausschussvorsitzenden Sven Wolf (SPD) gibt es, Stand Freitag, keinen Hinweis auf eine V-Mann-Tätigkeit Bergers. Unklar sei aber im Moment noch die Motivlage. Ob es ein erweiterter Suizid war, den würde man nie verhindern können. Oder eine politische Tat. Denkbar sei auch eine Mischung aus beidem.

Unabhängig vom Motiv – man muss diese Taten in einen Zusammenhang setzen, um verstehen zu können, was da vor einem liegt. Die Spuren, die sich hier finden, sind nur Teile eines großen Puzzles. Das unvollständige Bild lässt ein rechtsterroristisches Netzwerk aufblitzen. Ein Netzwerk, das sich selbst genug ist. Das sich aufeinander bezieht, dessen Kreise sich treffen, das sich unterstützt und dessen Hass seit Jahrzehnten wie eine Glut weitergetragen wird. Und das letztlich durch ein System von V-Leuten und V-Mann-Führern gestützt wird.

Die Theorien des „führungslosen Widerstandes“ und des bewaffneten Kampfes aus Einzelzellen besagen, dass die Taten für sich sprechen sollen und denen, die sie verstehen können, ein Zeichen sein sollen. Berger beging seine Taten am 14. Juni 2000.

Am 27. Juli 2000 explodiert eine mit TNT gefüllte Rohrbombe am Düsseldorfer Bahnhof Wehrhahn, zehn Menschen werden zum Teil lebensgefährlich verletzt. Ein rechtsextremistischer Hintergrund des Anschlags wird nicht ausgeschlossen.

Am 9. September 2000 wird der Nürnberger Blumenhändler Enver Simsek vom NSU hingerichtet.

Die zeitliche Nähe dieser Taten kann ein Zufall sein. Auffällig ist sie auf jeden Fall.