Am Samstag findet das berühmte Hahnenkammrennen in Kitzbühel statt. Skifahrer Andreas Sander erklärt, warum es im Zweifel besser ist nicht zu starten.
Kitzbühel/Essen.
Am kommenden Samstag steht der Höhepunkt der alpinen Weltcup-Saison an: Die legendäre Ski-Abfahrt in Kitzbühel auf der Streif. Viele Geschichten ranken sich um den Berg, der die, die auf ihm fahren, so unerbittlich abwerfen kann. Ein Dokumentarfilm, der derzeit in den Kinos läuft, unterfüttert die Legendenbildung. Sein Titel „Streif – one hell of a ride“. Übersetzt: „Die Streif – ein Höllenritt“. Es ist die 75. Auflage des prestigeträchtigen Rennens. Skirennfahrer Andreas Sander wird erneut am Start sein. Er spricht über die Lust am Risiko.
Herr Sander, was sagen Ihnen folgende Worte: „Jetzt bist du ein richtiger Skifahrer“?
Andreas Sander: Ich erinnere mich. Das war der Inhalt einer SMS, die mir mein Trainer 2011 nach meinem Debütlauf in Kitzbühel geschickt hat.
Warum?
Sander: Er hat das mehr als Witz gemeint. Aber die Streif erfolgreich zu bezwingen, ist trotzdem wie ein Ritterschlag. Das Rennen ist ein Mythos, wohl jeder Skifahrer will das in seiner Karriere mal erreicht haben. Felix Neureuther ist in den technischen Disziplinen zu Hause, aber die Streif will er unbedingt einmal fahren. Und wenn es nur in einem Trainingslauf ist.
Was macht das Rennen so besonders?
Sander: Es ist für mich die schwerste Abfahrt der Welt. Und sie hat diesen unglaublichen Mythos. Nirgendwo kostet es mehr Überwindung loszufahren als im Starthäuschen von Kitzbühel.
Malen Sie uns ein Bild mit Worten, bitte.
Sander: Bei keinem Rennen stehen so viele Zuschauer direkt am Start. Der Blick hinunter ins Tal ist gigantisch. Die Piste ist extrem eisig und verdammt steil. So steil, dass es einfacher ist, sich auf Skiern hinunterzustürzen als sich nur langsam vorzutasten. Bei der Besichtigung des Kurses bekommt man die Skier fast nicht zum Stehen, weil man abzustürzen droht.
Was sieht der Zuschauer noch von oben?
Sander: Er blickt direkt hinunter Richtung Mausefalle, er sieht die ersten zwei Tore, er sieht wie die Fahrer springen, aber er sieht nicht, wie sie landen. Die Kuppe ist dort im Weg.
Wie ist es im Starthäuschen?
Sander: Es ist riesig. Drinnen sind die Sieger und Legenden aufgelistet. Wer will, kann noch einen Blick darauf werfen. Aber kaum jemand hat das im Sinn, weil sich alle konzentrieren. Nirgendwo am Start ist es so ruhig wie dort. Manchmal schon fast beängstigend ruhig. Ich mag das nicht so, ich vertrage bis zwei, drei Minuten vor dem Start auch noch einen Spaß.
Konzentration ist wichtig.
Sander: Das stimmt, aber wer über Stunden angespannt ist, der ist vielleicht im entscheidenden Moment schon müde im Kopf. Aber das empfindet jeder anders. Fest steht: Die Streif verzeiht von Beginn an keinen Fehler. Auf anderen Strecken kann man langsam ins Rennen finden, hier geht es sofort los. Nach ein paar Sekunden bist du an der Mausefalle, 50-Meter-Sprung, mit 130 Sachen geht es in die Kompression, nach einer 180-Grad-Kurve in einen der steilsten Steilhänge des Weltcups. Irgendwann werden die Beine blau, aber du darfst den Druck auf die Skier nicht verringern, sonst trägt es dich spätestens in der eisigen Traverse hinaus. Mit 140 Stundenkilometern geht es dann in den Zielsprung.
Der norwegische Abfahrtsweltmeister Aksel Lund Svindal sprach von Angstzuständen vor seinem ersten Rennen in Kitzbühel. Wie ging es Ihnen?
Sander: Ich hatte Angst – und gleichzeitig keine Zweifel. Wer zweifelt, darf da nicht runter. Aber es war bei meiner ersten Kitzbühel-Fahrt auch eine ganz besondere Situation. Im ersten Training stand ich oben als junger Fahrer und habe den ersten Läufern zugesehen. Hans Grugger war einer der Ersten, er sprang in die Mausefalle – dann kam irgendwann der Rettungshubschrauber.
Grugger erlitt ein schweres Schädel-Hirn-Trauma und verbrachte einen Monat auf der Intensivstation. 15 Monate nach dem Sturz beendete er seine Karriere.
Sander: Dass es so schlimm war, wussten wir in dem Augenblick noch nicht. Aber die Streif hat einige Karrieren beendet oder lange unterbrochen.
Das Wissen darum macht es im Starthäuschen vermutlich nicht einfacher. Warum stürzten Sie sich kurz nach ihm trotzdem hinab?
Sander: Es ist auch der Moment, auf den man lange hingearbeitet hat. Man empfindet eine Mischung aus Freude und Respekt. Außerdem: Im Starthäuschen ist diese Uhr, die tickt herunter und zeigt die Zeit, die dir noch zum Starten bleibt. Fünf, vier, drei Sekunden – dann gibt es kein Zurück mehr. Wenn man sich manchmal fragt, wofür man trainiert und in der Kälte steht: Im Ziel in Kitzbühel weißt du es. Dann willst du am liebsten noch mal runter. Dieser Adrenalinstoß ist unbeschreiblich.
Haben Sie den Film über die Streif schon gesehen?
Sander: Ich kenne den Trailer, der allein verursacht bei mir Gänsehaut. Aber den Film habe ich noch nicht gesehen. Er arbeitet auch ein paar Stürze auf der Streif auf. Das brauche ich direkt vor Kitzbühel nicht unbedingt. Nach der Saison reicht auch noch (lacht).