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Selbstversuch – Warum die Streif „der Wahnsinn auf Eis“ ist

Selbstversuch – Warum die Streif „der Wahnsinn auf Eis“ ist

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Foto: imago
In vier Sekunden von null auf Tempo 100: Die Kitzbüheler „Streif“ ist „der Wahnsinn auf Eis“. Vor dem Abfahrtsweltcup am Samstag hat sich WAZ-Reporter Klaus-Eckhard Jost im Selbstversuch auf die Piste gewagt. Auch 25 Minuten Rutschpartie mit den Präparierern legen die Nerven blank.

Kitzbühel. 

So muss es sein, unmittelbar vor einem Fallschirmsprung. Vor sich nichts als nichts. Doch ich befinde mich nicht hoch oben in einem Flugzeug, sondern mit beiden Füßen auf dem Boden, exakt 1665 Meter über dem Meeresspiegel. Auf dem Rücken habe ich keinen Rucksack mit Fallschirm, sondern ich stehe auf Ski im Starthaus der berühmtesten Abfahrt: der Streif in Kitzbühel.

Es war eine spontane Entscheidung, mich dem Team anzuschließen, das die 3312 Meter lange Piste fürs Hahnenkammrennen präpariert. Axel Naglich, der stellvertretende Renndirektor, hat mich mitgenommen. Nun kennt er kein Pardon. „Raus aus dem Starthaus und dann seitlich von mir versetzt ganz langsam rutschen“, sagt der gebürtige Kitzbühler. Ich zögere. 51 Prozent Gefälle fühlen sich an wie freier Fall. Noch dazu, wenn der Hang spiegelblank vor Eis ist. „Du musst immer gleich langsam rutschen“, ermahnt mich Naglich, der die Piste früher als Vorfahrer im Renntempo runtergefahren ist.

In der Mausefalle springen die Profis etwa 80 Meter weit

Gleichmäßig langsam, das ist auf diesem Hang leichter gesagt als getan. Dass auch die frisch geschliffenen Kanten nicht greifen – keine Überraschung bei dem Eis. Die 20 Zentimeter Schnee, die in den letzten Stunden gefallen sind, geben auch keinen Halt. Der Neuschnee kann sich nicht mit dem Untergrund verbinden. Der besteht aus künstlichem Schnee, der mit viel Wasser zur Eisbahn gemacht wurde. Dadurch beschleunigen die Rennfahrer in vier Sekunden auf Tempo 100. Da wird jeder Porsche-Pilot neidisch.

Eine Hundertschaft Freiwilliger, vom Bäcker bis zum Zahnarzt, hat sich aufgemacht, den frisch gefallenen Schnee aus der Piste rauszurutschen. Parallel dazu schaufeln Soldaten des Bundesheeres die weiße Pracht auf Plastikfolien, die als Rutschen dienen. Weiter geht’s zur Mausefalle. Die Piloten springen etwa 80 Meter weit. Wir rutschen. Natürlich. Und rudern mit den Armen, um auf den Beinen zu bleiben. 85 Prozent – Wahnsinn.

Mit dem Dreifachen des Körpergewichts zusammengepresst

Es rutscht und rutscht und rutscht, die Richtung zu bestimmen ist unmöglich. Trotzdem sagt Naglich: „Langsam!“ Der Vorteil der Entschleunigung, die Kompression am Fuße der Mausefalle ist für uns nicht spürbar. Für die Rennfahrer schon. Die tollkühnen Piloten auf ihren schmalen Brettern werden mit dem Dreifachen ihres Körpergewichts zusammengepresst.

Wie’s genau weitergeht? Vor lauter Schneefall kann ich es nicht genau sehen. Das Flutlicht und die orangefarbenen Fangnetze bieten zum Glück Orientierung. Also ab durchs Karussell, ein scharfer 90-Grad-Rechtsschwung und den Steilhang hinab. Auch der eine einzige, große Eisfläche. „Wir beginnen mit der Schneeproduktion, sobald es die Temperaturen zulassen“, sagt Renndirektor Peter Obernauer, „die letzten zwei Wochen vor dem Rennen sperren wir die Piste für den Publikumslauf.“

Dichter Schneefall erschwert die Sicht auf Kitzbühel

Der Steilhang ist abgerutscht, jetzt gibt es erst einmal eine kleine Verschnaufpause. Auf dem folgenden Ziehweg mit den Streckenabschnitten Brückenschuss, Gschöss und Alte Schneise schieben wir den Schnee durch Pflügen zur Seite. „Im Rennen ist dies der Abschnitt, der nicht im Fernsehen zu sehen ist, in dem die Rennfahrer zwar keine Zeit gewinnen, dafür jede Menge verlieren können“, brüllt Naglich eine Information während der Fahrt herüber.

Rechts taucht die Seidlalm auf. Wie schön wär‘ jetzt ein Weizenbier! Keine Zeit, Naglich drängt. Dafür ist die Neigung auch für Normalskifahrer zu meistern. Ebenso wie der Lärchenschuss und der Oberhausberg. Doch wo ist der große Bogen, der sich immer über die Hausbergkante spannt? Im gleißenden Licht der Scheinwerfer ist er nicht zu sehen. „Für die Pistenpräparation wird er zur Seite gezogen“, sagt Naglich.

Unten im Tal kann man wegen des dichten Schneefalls anhand der Helligkeit das berühmte Kitzbühel erahnen. Jetzt ist es nicht mehr weit. Für die Traverse fährt Axel Naglich, der Mann, der die längste Abfahrt der Welt vom Mount St. Elias in Alaska gemeistert hat, eine ganz spezielle Linie. Rutschen bis zum Fangnetz, Schrägfahrt, wieder Rutschen bis zum Fangnetz, erneute Schrägfahrt und noch einmal Rutschen.

„Die Streif ist wie ein wilder Hund“

Jetzt nur noch der Zielschuss mit dem Sprung, dann ist es geschafft. Die Oberschenkel brennen wie das Holz im gemütlichen Kachelofen einer Almhütte. So wird es den Abfahrern am Samstag auch gehen, wenn sie die 3312 Meter der berühmten Streif in weniger als zwei Minuten hinter sich haben.

Ich kann mit ihnen fühlen. Nach dieser einen 25-minütigen Rutsch-Abfahrt kann ich auch verstehen, dass die Rennfahrer voller Ehrfurcht von dieser Abfahrt sprechen. „Man muss ständig auf der Hut sein, dass einen die Streif nicht abwirft“, sagt Benni Raich. „Die Streif ist wie ein wilder Hund, der dich anbellt. Wenn du nicht zurückbellst, dann frisst sie dich“, sagt Andreas Schifferer. „Diese Abfahrt wird nie zur Routine, auch wenn du hundertmal runterfährst“, sagt Stephan Eberhardter.

Für mich ist die Streif einfach nur der Wahnsinn auf Eis.