Eine Kanu-WM für alle. In Duisburg starten die behinderten und nicht-behinderte Athleten erstmals gemeinsam. Auch Stefan Deuschl ist dabei. Er verlor als Soldat in Afghanistan seine Beine. Der Sport und seine Familie gaben ihm den Lebenswillen zurück.
Duisburg.
Mit Spucke geht vieles besser. Stefan Deuschl feuchtet den Gummipropfen an und befestigt so seine GPS-Uhr auf seinem Kajak. So hat er seinen Puls, die Zeit und die zurückgelegte Strecke im Blick. Sein Trainer Lars Groskopf reicht ihm das Paddel und schickt ihn auf die Regattastrecke in Duisburg-Wedau: „Bleib ganz locker, Stefan! Zieh einmal die 200 Meter voll durch!“
Es ist die Generalprobe vor dem großen Auftritt. Am Mittwoch wird es für Stefan Deuschl ernst, wenn er bei der Kanu-Weltmeisterschaft in Duisburg über 200 Meter antritt. Deuschl ist Parakanute. In Duisburg wird der Gedanke der Inklusion gelebt: Zum ersten Mal kämpfen in Wedau bei einer WM Behinderte und Nicht-Behinderte gemeinsam um Gold, Silber und Bronze. „Das ist für uns Menschen mit einer Behinderung etwas ganz Besonderes“, sagt Deuschl, „wir fühlen uns so nicht ausgegrenzt, sondern richtig integriert.“
Das Selbstmordattentat in Afghanistan
Für Deuschl war der Sport ein Rettungsanker nach einem Horror-Erlebnis. Der Hauptfeldwebel der Bundeswehr verlor 2005 bei einem Selbstmordattentat in Afghanistan beide Beine. Der heute 46-Jährige kann sich an nichts erinnern. „Gottseidank!“, sagt er. „So werde ich nicht von Alpträumen geplagt.“
Die Ärzte haben ihm erklärt, dass sein Körper nach dem Attentat durch den immensen Blutverlust wie ein Notstrom-Aggregat umgeschaltet und nur lebenserhaltende Funktionen ausgeführt habe. Dadurch, dass er sofort ins Koma gefallen sei, habe das Gehirn keine Zeit gehabt, das Erlebte auf die Festplatte zu schreiben.
Sein Kollege Tino Käßner hat ihm später erzählt, wie sie Opfer des schrecklichen Attentats wurden: Die beiden Personenschützer sind mit Oberstleutnant Armin Franz auf einer Routinefahrt, als ihr gepanzerter Geländewagen von einem Toyota gerammt wird. Sie denken, es handle sich um einen normalem Unfall. Sie steigen aus. Dann dreht der Selbstmordattentäter um und rast auf die drei Soldaten zu. Zwölf Kilo Sprengstoff detonieren. Franz stirbt, Käßner verliert den rechten Unterschenkel, Deuschl beide Beine.
Phantomschmerzen und der Wille, zu kämpfen
Was war seine erste Erinnerung nach diesem Horror-Unfall? „Ich bin Tage später im Koblenzer Bundeswehrkrankenhaus aus dem künstlichen Koma erwacht“, erzählt Deuschl, „ich habe dann die Krankenschwester gebeten, mir die Stiefel auszuziehen. Ich hatte ein Brennen in den Füßen wie nach einem langen Marsch in zu engen Schuhen.“
Phantomschmerzen. Für die Ärzte war es an der Zeit, Deuschl mit der bitteren Wahrheit zu konfrontieren. Beide Beine bis hoch über dem Oberschenkel amputiert. Deuschl, der begeisterte Sportler, der Bewegungsmensch, war zutiefst geschockt. „Ich hatte meinen Lebenswillen verloren“, gibt er zu. Die Ärzte fürchteten, es gehe nicht weiter, ohne Willen.
„Holen Sie Ihre Söhne ans Krankenbett“, baten sie seine Frau. Und die beiden, sieben und neun Jahre alt, waren Deuschls Rettung. „Ich war mir dann bewusst, dass sie mich noch ein ganzes Leben brauchen“, sagt das Bayer aus Garmisch-Partenkirchen und entschuldigt sich für die Tränen, die ihm jetzt das Sprechen schwer machen: „Ich konnte nicht einfach den Löffel abgeben. Von da an hieß es, so, jetzt kämpfe ich.“
Und Deuschl kämpfte. Die Familie hatte sich schon auf eine Weihnachtsfeier im Krankenhaus eingestellt. Doch Heiligabend stand das schönste Geschenk für die Frau und die Söhne vor der Haustür. Auf den neuen Prothesen.
Heute sieht sich Para-Kanut Deuschl als „Penionär, Hausmann und Sportler“
Neben seinen Liebsten hat Deuschl der Sport geholfen, das Leben in den Griff zu bekommen. Als Handbiker bewältigte er mehrere Marathons, als Skifahrer stand er in Bayerns Auswahl. Aber als er an einem Kanu-Schnupperkurs teilgenommen hat, hat er seine neue Leidenschaft gefunden.
Auch heute steht Deuschl voll und ganz zum Auftrag der Bundeswehr in Afghanistan. Und er hat es auch nicht bereut, dass er Soldat geworden ist. „Es war mein Beruf“, sagt Deuschl, der sich heute selbst als Pensionär, Hausmann und Sportler bezeichnet: „Ein Feuerwehrmann muss damit rechnen, dass er in einen Brand geschickt wird. Ein Dachdecker kann auch mal vom Dach fallen.“
Natürlich, manchmal fragt auch er sich: warum ausgerechnet ich? „Aber meine Frau, meine Söhne und ich haben uns arrangiert. Es ist auch ein Leben. Ein anderes, aber ein lebenswertes.“