Seit bei Karina Granitza Knochenkrebs diagnostiziert wurde, ist bei ihr nichts mehr so wie es einmal war. Doch sie hat sich zurückgekämpft ins Leben. Und träumt als Bogenschützin von einer Teilnahme an den Paralympics in Rio de Janeiro.
Soest.
Als Elfen oder kleine Nikoläuse verkleidet preschen die jungen Damen auf ihren Ponys durch die liebevoll geschmückte Reithalle. Die Mähnen der kleinen Pferde wehen im Galopp, der Sand spritzt bei jedem Hufschlag in sämtliche Richtungen. Alles Glück der Erde liegt beim Weihnachtsreiten des Zuchtstalls Isaak in Soest-Epsingsen einmal mehr auf dem Rücken der Pferde. Und nicht nur das Lachen der Elfen und Nikoläuse zeugt davon.
„Ich bin früher auch geritten“, sagt Karina Granitza wenige Tage zuvor. In ihrer Stimme klingt Wehmut mit. Früher, ja, früher ritt sie „gerne und viel“. Wie fast jedes junge Mädchen. Wie jene Mädchen in Epsingsen.
Als die mittlerweile 27-Jährige in Erinnerungen schwelgt, erhellt künstliches Licht die kleine Turnhalle, die ihre Farbtupfer lediglich durch unterschiedliche Spielfelder auf dem Fußboden erhält. Durch die schmalen Oberlichter würde selbst am Tag kaum Sonne eindringen.
Wintertraining in der Halle
Doch im Winter findet der Club für Bogenschützen Soest nur hier Unterschlupf. Dann stellen die CfBler auf einer Querseite ihre Zielscheiben auf und hängen die Wand dahinter mit einer Art Fangtuch ab, falls sich doch mal ein Pfeil verirrt. Der einzige Weg in die kleine Halle des Schulzentrums führt durch die Umkleidekabinen. Trotzdem beschwert sich Karina Granitza nicht. Es wäre gegen ihr Naturell. In den Schießpausen lacht sie fröhlich und unterhält ihre Vereinskollegen. Sie genießt jeden Augenblick in dieser bescheidenen Behausung und ignoriert die spartanische Umgebung.
Wer hätte schließlich vor gut zehn Jahren ernsthaft damit gerechnet, dass sie so selbstständig, so leidenschaftlich einem Hobby frönen würde? Dass sie überlebte?
Fast niemand.
Karina Granitza liebt die Ruhe
„Bogenschießen ist Ruhe und Konzentration“, sagt Karina Granitza, „du musst ganz genau darauf hören, was in deinem Körper vorgeht.“ Sie, die sich früher auf einem Pferderücken so gerne durchschütteln ließ, die das Schnauben und Wiehern genoss oder das Klappern der Hufe. Sie, die mit ihrer Clique so viel unternahm. Sie liebt nun diese Ruhe. Diese Stille, bevor die Sehne ihres Compound-Bogens den Pfeil beschleunigt, er durch die Luft zischt und dumpf im Ziel einschlägt.
Karina Granitza sitzt im Rollstuhl. In den zurückliegenden Jahren musste sie Stress und Hektik für mehr als ein Leben ertragen.
Sie erinnert sich noch genau an diese schicksalhaften Tage im Jahr 2001. Wer ihr zuhört, wünscht sich, wünscht ihr die eine oder andere Erinnerungslücke. Ausgerechnet kurz vor der Soester Allerheiligenkirmes, diesem jährlichen Strudel aus Partys und guter Laune, erhielt das lebenslustige Mädchen die schockierende Diagnose: Knochenkrebs am linken Unterschenkel. Mit 16. Viel zu spät erkannt. Der Tumor – hatte gestreut.
Eine Chemotherapie jagte die nächste
„Es konnte sich halt niemand vorstellen, dass ein junges Mädchen an Knochenkrebs erkrankt“, sagt die Soesterin rückblickend. Damals war sie zu jung, um die Tragweite ihrer Erkrankung zu erkennen. Und als die Ärzte der Uniklinik Münster ihr linkes Bein oberhalb des Knies amputierten, da dachte sie: Okay, ist der Krebs wenigstens weg.
War er aber nicht. Das Martyrium ging weiter.
Eine Chemotherapie jagte die nächste, insgesamt acht Mal wurde ihr Thorax geöffnet, um Metastasen aus der Lunge zu entfernen. Trotzdem gaben zumindest die Ärzte in Münster nach der sechsten Operation die Hoffnung auf. „Sie schickten mich zum Sterben nach Hause“, sagt Granitza – und wirkt nach außen erstaunlich emotionslos.
Sie ging, aber sie kämpfte weiter um ihr Leben. Und – sie gewann! Weil sie trotz weiterer Chemotherapien im Krebszentrum Kloster Paradiese ihren Mut nie verlor, weil sie dort die sehnsüchtig erhoffte Unterstützung erhielt, und weil sie nebenbei sogar den Realschulabschluss nachholte sowie das Fachabitur in Sozial- und Gesundheitswesen baute. „Ich wollte unbedingt ins Leben zurück“, erzählt Granitza. „Außerdem darfst du dich gerade bei Krebs nicht isolieren und in eine negative Grundhaltung verfallen. Es hilft ungemein, positiv zu denken“, sagt sie.
Ihr Lachen durchbricht die sterile Hallenatmosphäre
Positiv denken, so normal wie mit einem Rollstuhl möglich zu leben. Die junge Frau lebt all das vor. Sie erschwerte sich den Alltag dadurch sogar. „Im Studium hätte ich mir ein Wartesemester sparen können, aber ich habe nicht angegeben, dass ich schwerbehindert bin“, sagt Granitza, deren größtes Handicap neben dem Rolli oder der – nur selten genutzten – Prothese die immer mal wieder brechenden Rippen sind. „Eine Folge der Krankheit und der Chemos.“
Als der CfB Soest für sie und den ebenfalls im Rollstuhl sitzenden Jonas Felger dem Behindertensportverband beitreten möchte, ist sie anfangs ebenfalls dagegen. „Blöd“, sagt Granitza mittlerweile über ihr Verhalten – und lacht ein Lachen, das die sterile Hallenatmosphäre so wohltuend durchbricht.
Karina Granitza träumt von Rio 2016
Denn dieser Schritt, für den kleinen Verein ein finanzieller Kraftakt, da die Mitgliedschaft 300 Euro jährlich kostet, ist der erste zur Erfüllung eines ihrer größten Träume. Die Paralympischen Spiele in Rio de Janeiro 2016 – an ihnen will sie teilnehmen. „Noch bin ich eine ganz kleine Maus“, sagt Karina Granitza, die sich nun im Wettbewerb mit ebenfalls behinderten Bogenschützen für die deutsche Nationalmannschaft empfehlen muss.
Aber Trainer Martin Hinse traut ihr die Qualifikation für Rio zu. Ihr Können im Umgang mit Pfeil und Bogen, ihr Ehrgeiz, der sie so viele scheinbar unmögliche Aufgaben bewältigen ließ. Hinzu kommen die vergangenen drei Jahre ohne erneute Chemotherapie – jeder Tag mehr weckt in der Schulsozialarbeiterin der Stadt Werl neue Lebensgeister. Sie sprüht vor Freude.
„Ich habe einfach so viel Bock auf das Leben“, erklärt sie, wenngleich die Zeit der Rebellion, der ausschweifenden Partys vorbei sei. Auch der Irokesenhaarschnitt ist Vergangenheit, nur rot färbt sie ihren Bubikopf schon noch.
Noch immer liebt sie die Pferde
567 von möglichen 600 Ringen beträgt aktuell ihre persönliche Bestleistung. Geschossen bei den Berlin Open vor wenigen Tagen. Um vielleicht zwei Millimeter verpasste sie den Einzug in das Achtelfinale. Obwohl Weltmeister, Deutsche Meister und internationale Top-Schützen starteten. Ohne Behinderung, wohlgemerkt.
Für Brasilien muss sie sich noch steigern, wird sie sich noch steigern. Vielleicht auf neues, höherwertiges Material umstellen, wenn es die finanzielle Situation erlaubt. Neben der Reise gibt es allerdings einen weiteren Traum, den sich Karina Granitza unbedingt erfüllen möchte. Doch ihr Kopf bremst mit einer fast unbekannten Emotion: mit Angst.
„Natürlich kann ich das. Mir fehlt ja nichts, nur ein halbes Bein“, sagt Karina Granitza selbstironisch. Um plötzlich nachdenklich anzufügen: „Aber es wird eben nie wieder so sein wie früher.“
Sie will wieder reiten. Rauf auf einen schwankenden Pferderücken. Zurück zum Glück. Endgültig.