Er stolpert durch die Fußballszene wie die deutsche Mannschaft im EM-Spiel gegen Kroatien über den Platz. Mal ehrlich: Lothar Matthäus ist aus dem Leben der Fußballfans nicht wegzudenken. Matthäus‘ große internationale Karriere begann am 14. Juni 1980. Während einer Europameisterschaft.
Es ist alles schon gelaufen an diesem Tag, der Einzug ins Finale bei der EM 1980 in Italien nahezu perfekt. Nach dem 1:0 im ersten Vorrundenspiel gegen die Tschechoslowakei führt Deutschland gegen die Niederlande 17 Minuten vor Schluss nahezu uneinholbar mit 3:0. Durch drei Tore von Klaus Allofs. Trainer Jupp Derwall wagt das Experiment. Er bittet einen 19-jährigen Bubi namens Lothar Herbert Matthäus zu sich.
Die schillerndste und umstrittenste Figur der deutschen Fußball-Geschichte betritt die internationale Bühne. Nach nur 28 Bundesligaspielen. Matthäus kommt für Kapitän Bernard Dietz. Da ist er noch nicht der „Loddar“, über den alle schmunzeln. Der „Loddar“, der die bunten Blätter füllt, die in Arztpraxen ausliegen. Der „Loddar“, der vergeblich auf ein Trainerengagement in der Bundesliga hofft. Da ist er noch Lothar, das Talent. In der 80. Minute verursacht der junge Lothar einen Elfmeter, den Rep zum 1:3 verwandelt. Sechs Minuten später verkürzt van de Kerkhof gar auf 2:3. Sieg und Finaleinzug sind in Gefahr. Es bleibt beim 3:2, Deutschland wird später Europameister. „Den habe ich bei der EM 1980 beim 3:0 gegen Holland mal eingewechselt. Und schwupps, nach drei Minuten hatte er den ersten Holländer umgelegt“, sagt Jupp Derwall, als er über diese Episode wieder lachen kann.
Es ist das vorerst letzte Länderspiel für Matthäus. Bis zum 18. November 1981 muss er warten. Im Spiel gegen Albanien wird er beim Stand von 5:0 eingewechselt. Endstand 8:0. Da läuft sie schon, die erste Stufe seiner vierstufigen Karriere.
Stufe eins: Der junge Lothar Matthäus
Er ist ein echter Franke. Geboren und aufgewachsen in Erlangen, Sohn eines Schreiners. Der noch nicht volljährige Lothar wird Raumausstatter. Nebenbei spielt der kleine Junge Fußball beim FC Herzogenaurach. Eine fränkische Familien-Idylle? Der kleine Lothar wird immer besser, kickt mit 17 in der Seniorenmannschaft, wird vom DFB entdeckt und erhält seine Chance in der A-Jugend-Nationalmannschaft. Und nutzt sie. Er unterschreibt einen Vertrag bei Borussia Mönchengladbach, damals noch neben den Bayern der Top-Verein Deutschlands, absolviert in seiner Premierensaison 28 Erstligaspiele und bei der EM 1980 – siehe oben – sein erstes Länderspiel.
Das geht zwar schief und Deutschlands größtes Talent seit Beckenbauer verschwindet aus dem Blickfeld von Trainer Jupp Derwall, aber in der Bundesliga stürmt der dribbel- und schussstarke offensive Mittelfeldspieler ganz, ganz schnell die Ranglisten der Fachmagazine. Bei der WM 1982 wird Lothar zweimal eingewechselt und am Ende Vize-Weltmeister, 1984 unterschreibt er seinen zweiten Profivertrag. Diesmal beim FC Bayern München. Seine letzte Handlung im Borussen-Dress ist ein folgenschwerer Fehlschuss. Im DFB-Pokal-Finale zwischen seinem alten und seinem neuen Klub verhaut Lothar im Elfmeterschießen einen Elfer. Es gewinnt: Bayern.
Stufe zwei: Lothar Matthäus ganz oben
Die Gladbacher fluchen, Lothar auch. Aber nur einen kurzen Moment. Schon 1984, mit 23, ist er ganz oben angekommen. Mit 23 kann er sich schon Nationalspieler, Europa- und Vize-Weltmeister nennen. Im Jahr fünf nach seinem ersten Länderspiel wird Matthäus erstmals Deutscher Meister. 1986 und 1987 folgen zwei weitere Titel mit den Bayern – 1986 zusätzlich noch der DFB-Pokal. In diesem Jahr erlebt er sein drittes Finale bei einem großen internationalen Turnier. Und endlich darf er auch mitspielen. Doch im WM-Endspiel gegen Argentinien gibt es ein 2:3. Matthäus gegen Maradona. Nicht zum letzten Mal. Mitte 1987 ist Matthäus 26. Er muss seinen Lebenslauf erweitern: Europameister, zweifacher Vize-Weltmeister, dreifacher Deutscher Meister – dazu noch ein DFB-Pokalsieg. Und noch ein Vize-Europapokalsieg. 1987 steht er zum ersten Mal im Finale des Europapokals der Landesmeister. 1:2 gegen den FC Porto. Wieder ein großes Finale verloren.
Doch es werden noch ein paar folgen.
Von Jahr zu Jahr spielt Matthäus immer besser, immer dynamischer. Er übernimmt die Kapitänsbinde der Nationalmannschaft, wechselt 1988 nach Italien zu Inter Mailand. Die sportlich beste Entscheidung seines Lebens. Es gibt auf der Welt keinen besseren Mittelfeldspieler als den Deutschen mit der Nummer „10“. Unvergessen bleiben seine Leistungen beim WM-Turnier 1990 in Italien, unvergessen sein Solo zum 1:0 gegen Jugoslawien im ersten Gruppenspiel. Endstand 4:1. Im Endspiel besiegt Deutschland Argentinien mit 1:0. Wieder trifft Matthäus auf Maradona, diesmal gewinnt der Deutsche. Matthäus, inzwischen 29, darf den goldenen WM-Pokal in den Nachthimmel Roms heben. 1990 und 1991 wird er „Weltfußballer des Jahres“, in der Saison 1990/91 trifft er für Inter Mailand in 31 Spielen 19-mal. Für Matthäus eine Rekordquote. Höher und besser geht’s nicht.
Stufe drei: Lothar Matthäus‘ Ende mit Schrecken
Vier Jahre Italien sind genug. Denkt Matthäus 1992 und wechselt als 31-Jähriger zurück in die Bundesliga zum FC Bayern München. Er will noch ein paar Jahre spielen, seine Karriere locker ausklingen lassen. Es beginnt eine lange Leidenszeit für ihn. Und: Für seine Fans. Natürlich hat der alternde Weltstar in den 90-ern noch goldene Momente, ein paar Hochs. Aber ziemlich oft liegt er ganz unten. Und merkt es meist nicht.
Nichts kann Matthäus für zwei schwere Verletzungen. Schock Nummer eins im April 1992: Kreuzbandriss. Das Aus für die EM 1992. Schock Nummer zwei: Ein Achillessehnen-Abriss im Februar 1995, beim Testspiel der Bayern in Bielefeld. Lange dauert beim 34-jährigen Matthäus die Genesung, für die EM 1996 reicht’s nicht. Matthäus überwirft sich mit Bundestrainer Vogts, wird auch 1997 nicht ein einziges Mal für das DFB-Team nominiert. Und das als Rekord-Nationalspieler! Am 17. November 1993 übertraf er beim Spiel gegen Brasilien (2:1) in seinem 104. Spiel die Marke von Franz Beckenbauer.
Matthäus in den Schlagzeilen. Aber nur selten sportlich. Er heiratet zum zweiten Mal – diesmal die Moderatorin Lolita Morena. Aus dem Weltstar Lothar wird der Lebemann „Loddar“, mit zwei Frauen, drei Kindern. Seine Sprüche sind nicht mehr die viel geachteten Worte eines unantastbaren Kenners. Die Zitate landen bei Comedystars und Kabarettisten. 1996 veröffentlicht „Loddar“ ein Buch mit Interna aus der Bayern-Kabine. Matthäus wird bei den Bayern als Kapitän abgesetzt, die Mitspieler sind erschüttert. Jürgen Klinsmann und Matthäus sind seitdem verfeindet. Matthäus‘ Zusammenarbeit mit der Bild-Zeitung wird immer offensichtlicher. Nach einer „Bild“-Pro-Loddar-Kampagne folgt 1998 die Rückkehr des Fußball-Oldies ins DFB-Team. Er ist nicht mehr offensiver Mittelfeldspieler, sondern Libero. Wie einst Beckenbauer.
Und was sind seine goldenen Momente? 1998 nimmt er in Frankreich an seiner fünften WM teil, absolviert insgesamt 25 WM-Spiele. Noch ein Rekord! 1999, mit 38, gelingt ihm eine tolle Saison, er wird zum zweiten Mal nach 1990 Deutschlands „Fußballer des Jahres“. Mit dem FC Bayern steht er 1999 im Champions-League-Finale gegen Manchester United. Ja, genau, in DIESEM Finale. Beim Stand von 1:0 lässt sich „Loddar“ auswechseln. In der 80. Minute. Das Ende ist bekannt. 1:2. Zwei Gegentore in der Nachspielzeit. Der Sieg in der Champions League bleibt „Loddar“ verwehrt. Zwei Meistertitel (1999, 2000) und ein DFB-Pokalsieg (1998) runden seine Karriere in der Bundesliga ab. Sportlich.
Stufe vier: Lothar Matthäus als Comicfigur
Im März 2000 verabschiedet sich „Loddar“ aus München. Fliegt nach New York. Unterschreibt als 39-Jähriger einen Vertrag bei den New York/New Jersey MetroStars. Spielt in Amerika. Wieder: wie einst Beckenbauer. 19 Jahre nach seinem ersten Länderspiel. Auf der Pressekonferenz sagt er: „I hope we have a little bit lucky.“ Was will er sagen? „Ich hoffe, dass wir Glück haben werden.“ Loddar ist nur noch eine Comicfigur.
Eine andere heißt Erich. Erich Ribbeck führt als Bundestrainer Deutschland zur EM 2000 nach Belgien und in die Niederlande. Matthäus wird nominiert, spielt aber schlecht. Das DFB-Team scheitert in der Vorrunde. Das 0:3 gegen Portugal am 20. Juni 2000 ist Matthäus‘ 150. und letztes Länderspiel. Nur 16 Partien bestreitet er bis Dezember 2000 für die MetroStars. Ohne Torerfolg. Das war’s. Matthäus beendet seine Laufbahn kurz vor seinem 40. Geburtstag. Nach insgesamt 741 Spielen in Vereins- und Ländermannschaften. Nach 186 Toren.
Die Entscheidung kommt aber mindestens drei Jahre zu spät. Matthäus hätte früher aufhören und in Ruhe alle Trainerscheine machen sollen. Ein paar Jahre abtauchen, sich weiterbilden – wie Allofs oder Rummenigge. Das wäre richtig gewesen.
Doch Matthäus macht sofort weiter – ohne Trainerschein. Wie einst Beckenbauer. Aber Matthäus ist nicht Beckenbauer. In sieben Jahren sammelt er fünf Trainerstationen. Fünf! Rapid Wien ist seine erste. „Loddar“ wird Achter, die schlechteste Rapid-Platzierung seit 1911. „Als Spieler war er fantastisch, aber gäbe es ihn nur als Trainer, würde ich sagen, dass ich keinen größeren Tölpel gesehen habe. Alle bei Rapid – von der Putzfrau angefangen – atmen auf, dass er verschwunden ist“, sagt Torwart Ladislav Maier. „Loddar“ streitet sich mit der Vereinsführung, wird wegen vereinsschädigender Äußerungen gefeuert. „Wir dürfen jetzt nur nicht den Sand in den Kopf stecken“, hat Matthäus einst gesagt. Trifft auch diesmal zu. Fußball-Deutschland lacht.
Nach Wien folgen Partizan Belgrad, die Nationalmannschaft Ungarns, Atletico Paranaense, Red Bull Salzburg. Im Moment ist er in Israel bei Maccabi Netanya unter Vertrag. Seine größten Erfolge: der Meistertitel mit Belgrad, ein 2:0-Sieg in einem Länderspiel in Deutschland und der österreichische Meistertitel. In Salzburg ist er aber nur „Co“ unter Giovanni Trapatoni. Insgesamt ziemlich wenig in sieben Trainerjahren. „Loddar“ zieht es nach Deutschland, er kann nicht verstehen, dass ihn kein Bundesligist will. Dass er nicht einmal irgendwo im Gespräch ist. Keiner will die Comicfigur verpflichten. Die Figur, die Boulevardblätter mit jungen Freundinnen und der inzwischen dritten Hochzeit füllt. 2005 arbeitet Matthäus für den TV-Sender RTL II als Trainer der Amateurmannschaft Borussia Banana. Es hilft: nichts. Deutschland lacht. Weiter und weiter.
Damals und heute
Heute vor 28 Jahren begann alles. Wäre Loddars Karriere anders verlaufen, hätte er gegen die Niederlande bei der EM 1980 nicht gespielt? Wahrscheinlich nicht. Zu viel Talent, zu dynamisch, zu torgefährlich. Den Titel des „Ehrenspielführers der Nationalmannschaft“ hat kaum einer so verdient wie der Kapitän des Weltmeisterteams 1990.
Sein schlechtes Image hätte „Loddar“ vermeiden können. Inzwischen hat er die Fußballlehrer-Lizenz erworben. Wenigstens das. Er ist 47 Jahre alt, ein Engagement in der Bundesliga bleibt aber weit entfernt. „Solange Karl-Heinz Rummenigge und ich etwas beim FC Bayern zu sagen haben, wird er nicht einmal Greenkeeper im neuen Stadion“, sagt Bayern-Manager Uli Hoeneß.
Seine Nachfolger im DFB-Trikot sind Lukas Podolski und Bastian Schweinsteiger, die mit 22 und 23 bereits über 50 Länderspiele absolviert haben. Einer von Beiden wird Matthäus als Rekord-Nationalspieler garantiert ablösen. Damit die Karriere nach der Karriere nicht so schief läuft, sollten sie viel lesen.
Zum Beispiel diesen Text.
Matthäus‘ erstes Länderspiel in Zahlen
BRD-Niederlande 3:2 (1:0), EM 1980 in Italien, Gruppe 1, 29.900 ZS in Neapel, Stadio Sao Paulo
BRD: Schumacher, Kaltz, Stielike, Karlheinz Förster, Dietz (73. Matthäus), Schuster, Briegel, Müller (65. Magath), Rummenigge, Hrubesch, Allofs
NL: Schrijvers, Wijnstekers, Krol, van de Korput, Hovenkamp (46. Nanninga), W. van de Kerkhof, Haan, Stevens, Rep, Kist (70. Thijssen), R. van de Kerkhof
Tore: 1:0 Allofs (20.), 2:0 Allofs (60.), 3:0 Allofs (66.), 3:1 Rep (80., Foulelfmeter: Matthäus an Wijnstekers), 3:2 W. van de Kerkhof (86.)