Verl. Die Fältchen um die Augen von Ulf Raschke sehen aus wie gezeichnete Zeit. Der 37-Jährige ist gerade von der Arbeit gekommen, in einem Aluminium-Betrieb in Verl fertigt er Garagentore und fährt einen der Transporter, mit dem die Tore ausgeliefert werden. Ein passender Job für den Ex-Torjäger.
Raschke und die Tore; sie scheinen ihn nicht loszulassen. Früher hat er Tore geschossen. Er war Stürmer, und zwar einer von denen, die keine Beule in den Ball treten. Deshalb hat er es auch bis in die Fußball-Bundesliga geschafft, damals. Aber es blieb bei einem Kurz-Auftritt, 40 Minuten hat er im Frühjahr 1993 für Borussia Dortmund gespielt. „Mehr war nicht, so ist das eben“, sagt er. Ein nüchterner Realist, dem Sterne schnuppe sind.
Der Kaffee ist fertig, Raschke erzählt von früher. In der Glas-Vitrine im Wohnzimmer steht noch eine Flasche von dem Schampus, den die Borussia damals jedem Spieler zum Saison-Abschluss geschenkt hat. Auf dem Etikett prangt der Schriftzug „Ulf Raschke Cuvet – Borussia“.
Dabei fing alles im Schatten des Schalker Parkstadions an. Raschke begann beim SV Vestia Disteln mit dem Fußball. „Mit dem Rad waren es von dort 15 Minuten bis zum Parkstadion“, sagt er. Raschke wurde Schalke-Fan.
Und er wurde ein gefährlicher Angreifer. Borussia Dortmund meldete sich, er sollte in der Oberliga bei den Amateuren unterschreiben. Raschke hatte gerade seinen 19. Geburtstag gefeiert, fuhr jeden Morgen zur Zeche, um seine Ausbildung zum Industrie-Mechaniker abzuschließen, und dachte: „Ich wäre doch blöd, wenn ich so ein Angebot nicht annehmen würde.“
Von der Reserve in die Bundesliga
Im Hinterkopf natürlich der Gedanke: Von der BVB-Reserve könnte der Sprung in die Bundesliga klappen. Der Stürmer schießt 17 Tore in der Oberliga, aber nichts passiert. „Ach“, sagt er, „mit 20 macht man sich darüber nicht so große Gedanken.“
Tage kommen und gehen, und eines montags steht Raschke vor dem Spiegel und rasiert sich, als im Flur das Telefon klingelt. „Zum Glück war ich zuhause, damals hatte doch noch niemand ein Handy.“ Am Apparat: Michael Henke, der Assistent von Trainer Ottmar Hitzfeld. „Du kommst heute zum Training zu uns, morgen ist Uefa-Pokal, wir brauchen dich.“
Auf Wolke sieben
Raschke schwebt auf Wolke sieben, aber er rasiert sich zu Ende. „Dabei habe ich mich geschnitten, egal!“ Er ruft seine Eltern an: „Ich bin dabei, morgen, im Uefa-Pokal.“ Die Borussia hat viele verletzte Profis und spielt im Halbfinale gegen Auxerre. Raschkes Eltern hasten zur Vorverkaufsstelle, ausverkauft, sie kriegen keine Karten mehr.
Sie sehen ihren Sohn im Fernsehen, er wird in der 81. Minute eingewechselt. Dortmund schafft es im Rückspiel durch ein Elfmeterschießen ins Finale, aber da ist Raschke schon längst wieder raus aus dem Profi-Kader. „Hitzfeld hat nicht mit mir gesprochen, also bin ich wieder zur zweiten Mannschaft zum Training gegangen.“
Anruf aus Turin
Trotzdem will er das Finale gegen Juventus Turin sehen. Mit drei italienischen Freunden – „absolute Juve-Fans“ – kauft er Karten für das Spiel in Turin. Sie wollen mittwochs ganz früh morgens mit dem Auto über den Brenner. Dienstag klingelt allerdings wieder das Telefon: Michael Henke aus Turin. „Wir brauchen dich. Du fliegst morgen mit dem Vorstand nach Italien.“
Die drei Kumpel von Raschke fahren alleine im Auto.
Bei der 0:3-Niederlage in Turin sitzt Raschke nur auf der Bank, aber die Mannschaft reist von dort zum Bundesliga-Spiel nach Nürnberg, und Raschke darf mit. Wieder hockt er auf der Bank, aber das findet er in Ordnung. „Ich war stolz, überhaupt dabei zu sein.“ Dann der große Moment: In der 50. Minute wechselt Hitzfeld ihn ein. Raschke kommt für Michael Schulz, den Groß-Meister der Gelben Karte.
Nürnbergs Nationaltorwart Andreas Köpke fehlt in der Partie, Ersatzmann Kurt Kowarz hütet das Tor, und irgendwann kommt der Pass von Uwe Grauer auf Raschke. „Von der Mittellinie laufe ich alleine auf den Torwart zu. Der kommt raus, ich spitzel den Ball vorbei, er trifft mich und ich fliege durch die Luft.“ Aus den Augenwinkeln sieht er, wie der Ball neben das Tor rollt. Es ist die Kunst der Stunde, so eine Chance zu nutzen.
Training mit den Profis
„Wenn der rein gegangen wäre, wäre ich vielleicht in der Mannschaft geblieben“, sagt der 37-Jährige. Aber wer weiß das schon so genau? Er trainiert noch ein paar Mal mit den Profis, dann steht er wieder bei den Amateuren auf dem Platz. Hitzfeld hat auch diesmal nicht mit ihm geredet. Raschke hat die Bundesliga verlassen, wie andere ein Zimmer verlassen. Ruhig, ohne Theater.
Auch ohne Bitterkeit. Er spielt noch zehn Jahre in der dritten Liga. SC Verl, Rot-Weiss Essen, LR Ahlen. Ein Schien- und Wadenbeinbruch leitet das Ende ein, Raschke ist damals 33 Jahre alt.
Heute trainiert er in Verl den B-Kreisligisten FC Sürenheide. Unzufrieden? „Überhaupt nicht“, sagt er. „Ich habe alles mitgenommen, ich bin zufrieden mit meinem Leben.“ Und das Lachen verwandelt seine Fältchen.