Europapokal-Krimi zwischen BVB und La Coruna ist Kult
Das Uefa-Cup-Achtelfinal-Rückspiel gegen La Coruna galt lange als spannendstes Europapokalspiel des BVB. Dann kamen die 69 Sekunden gegen Malaga.
Dortmund.
18 ½ Jahre lang galt die Partie gegen La Coruna als der „Hitchcock“ unter den Europapokal-Krimis auf Dortmunder Boden. 18 ½ Jahre – dann kamen die legendären 69 Sekunden im Champions-League-Halbfinale 2012/13 gegen den FC Malaga. Heute genießen beide Begegnungen Kultstatus. Was sie verbindet, ist die hoch dramatische Schlussphase mit zwei ganz späten Treffern und einer nicht mehr für möglich gehaltenen Wendung. Viele Fans, die auch andere große Duelle der Borussia live im Stadion miterlebt haben, beschreiben dennoch das Rückspiel im UEFA-Cup-Achtelfinale der Saison 1994/95 gegen den spanischen Vertreter Deportivo La Coruna als einen Allzeit-Höhepunkt.
Beispielhaft zwei kurze Schilderungen aus dem Forum des Internet-Fanzines schwatzgelb.de. Dort schreibt ein User mit dem Nickname . . .
. . . Rupo:
„Ich war 28, mit Kumpels im 11er (Block 11, Südtribüne/Anm. des Autors) und bekomme jedes Mal Gänsehaut, wenn ich an den Moment denke, als Bodo Schmidt den Ball gegen das Schienbein bekommt, der Ball nach rechts (von uns aus nach links) rollt, Ricken ihn aufnimmt, Riedle in der Mitte startet, Ricken das völlig egal ist . . . er abzieht (da wussten wir, datt Dingen passt), die Murmel unter der Latte einschlägt, hinter die Linie, Ricken abdreht nach rechts – und wir nach unten auf der Süd 😉 . . . Ich werde DIESES TOR niemals in meinem ganzen Leben vergessen!“
Und auch für Searcher 78 hat sich dieses Spiel, als Vater-Sohn-Erlebnis, für alle Zeiten im Gedächtnis festgefressen:
„Nach dem 1:1 war ich total geknickt, quasi alle Hoffnung verloren. Ich war zu dem Zeitpunkt 16. Neben mir saßen mein Vater und mein Onkel. Als die Spanier noch feiern, meint mein Vater ganz trocken: „Keine Sorge, die packen das noch!“ Ich hab’ ihn ungläubig angeguckt und er war sich wirklich absolut sicher. Dann vergingen die Minuten und das Ende der Verlängerung rückte immer näher. Mein Onkel, der am nächsten Tag sehr früh arbeiten musste, hatte sich auf den Weg Richtung Parkplatz gemacht – ein folgenschwerer Fehler. Die letzten Minuten sind halt Legende, mein Onkel hat beim Jubel zum 2:1 noch überlegt, ob er schnell zurück laufen soll, aber was sollte in den paar Minuten dann schon passieren. Kurze Zeit später ist er beim Ohren betäubenden Jubel, der hinter ihm erklang, vor einen Baum gelaufen und hat sich eine ziemliche Beule geholt. Im Stadion stand mein Vater neben mir mit Tränen in den Augen: ‚Hab’ ich doch gesagt!’
Für mich DAS Spiel überhaupt, ich weiß nicht, wie viele hundert Male ich mit meinem Vater an genau diese letzten Minuten zurück gedacht habe . . . , na ja, seit einiger Zeit denke ich alleine an dieses Spiel zurück, aber ich hoffe, irgendwann einmal meinen Kindern davon erzählen zu können. Ich war auch beim Champions-League-Finale in München und hab’ alle Meisterschaften im Stadion erlebt, aber ich glaube, dieses Spiel wird mir von allen am meisten in Erinnerung bleiben.“
Nicht irgendein Duell
Das Duell zwischen Borussia Dortmund und Deportivo La Coruna war im Herbst 1994 nicht irgendein Duell zwischen einem Bundesligisten und einem Primera-Division-Klub. Es war sozusagen der deutsch-spanische Liga-Gipfel. Der BVB, von Präsident Dr. Gerd Niebaum und Manager Michael Meier in den Jahren zuvor mit gigantischem Finanzaufwand und den Italien-Rückkehrern Matthias Sammer, Andreas Möller, Karlheinz Riedle, Stefan Reuter sowie mit Julio Cesar, Flemming Povlsen und Stéphane Chapuisat hochgerüstet, führte die Bundesliga-Tabelle souverän an. Am Ende der Saison sollte der erste Deutsche Meistertitel nach 32-jähriger Durststrecke stehen.
La Coruna wiederum stieg ab Anfang der 1990er Jahre in den Kreis der spanischen Spitzenteams auf und krönte diese Entwicklung mit der Meisterschaft 2000 sowie den Pokalsiegen 1995 und 2002 – ehe es, wie in Dortmund nach der 2002er Meisterschaft, wieder bergab ging. 1992/93 hatten sich die Galizier als Dritter hinter dem FC Barcelona und Real Madrid erstmals für einen europäischen Wettbewerb qualifiziert und waren ein Jahr später punktgleich nur aufgrund des etwas schlechteren Torverhältnisses hinter Barca spanischer Vizemeister geworden. Zum Zeitpunkt des Aufeinandertreffens mit dem BVB lag Deportivo gleichauf mit Real Saragossa und Real Madrid an der Tabellenspitze der Primera Division.
Da trafen also keine No-Name-Teams aufeinander, sondern zwei aufstrebende Top-Klubs mit Top-Leuten. Der bekannteste im Kader von La Coruna: Bebeto, brasilianischer Nationalspieler, als Sturmpartner von Romario frischgebackener Weltmeister, spanischer Torschützenkönig – und Schütze des 1:0 im Hinspiel gegen den BVB. Da pflasterte er das Leder schon nach 23 Minuten unhaltbar in den Winkel. Dortmund hatte in der Folge Glück, dass Stefan Klos einige tolle Paraden zeigte und der Schweizer Unparteiische Serge Muhmenthaler einem weiteren Treffer der Spanier wegen angeblicher Abseitsposition zu Unrecht die Anerkennung verweigerte. Dortmund hatte aber auch Pech bei einem Lattenkracher von Sammer und einer weiteren Fehlentscheidung des Schiedsrichters, der bei Chapuisats vermeintlichem Ausgleich ebenfalls auf Abseits entschied. Auch damit lag er daneben.
Rückstand am Nikolausabend
Der BVB musste 14 Tage später, am Nikolausabend, im eigenen Stadion also einen Rückstand umbiegen. Dass er das konnte, hatte er zuvor bereits bewiesen, denn nach glanzlosen Erstrunden-Erfolgen gegen den FC Motherwell aus Schottland (1:0/H, 2:0/A) setzte es in Runde zwei bei Slovan Bratislava eine 1:2-Niederlage. Riedle (2) und Möller sorgten im Rückspiel beim 3:0 für klare Verhältnisse.
La Coruna allerdings war ungleich schwerer zu knacken, und so dauerte es auch bis zur 50. Minute, ehe Michael Zorc mit dem 1:0 in der Addition beider Spiele der Ausgleich gelang. Zweimal trafen die Iberer in der Folge durch Fran (59.) und Salinas (68.) die Latte; der BVB wurde von Borussia zu Fortuna Dortmund. Es ging in die Verlängerung, und in der hatte Deportivo das Geschehen nicht nur im Griff – der Gast holte in der 102. Minute auch zum scheinbar finalen Schlag aus, als Alfredo nach einem Sensationslupfer plötzlich frei vor Klos auftauchte und den Ball zum 1:1 über den Keeper hinweg ins lange Eck setzte. Schockstarre auf den Rängen. Nun benötigte das Team von Ottmar Hitzfeld wieder zwei Tore – und es waren nur noch 18 Minuten zu spielen. Dann 15 . . . 10 . . . 7, 6, 5.
„Ich habe den Spielern schon oft gepredigt, dass selbst zwei Minuten vor dem Ende nichts entschieden und ein Wunder im Fußball immer möglich ist“, sagte Hitzfeld später. Ob der BVB-Trainer auch daran geglaubt hat, sagte er nicht.
Die meisten Zuschauer jedenfalls hatten den Glauben und die Hoffnung verloren; viele hatten sich bereits auf den Heimweg gemacht und die Sitzreihen auf den Tribünen ließen deutliche Lücken erkennen, als Sammer im Mittelfeld in wilder Entschlossenheit den Ball eroberte, Möller in den Strafraum flankte und wer sonst als „Air“ Riedle zum 2:1 vollendete. Es war die 116. Minute. Nur noch ein Tor. Und noch 4 Minuten . . . 3, 2 . . . Noch ein letztes Mal der BVB. Bodo Schmidt, der Manndecker, fräste sich in zentraler Position durch den spanischen Beton, von seinem Schienbein prallte der Ball Lars Ricken vor die Füße. Der 18-Jährige, als Joker eingewechselt, guckte nicht rechts und nicht links. Er schaute in den Tunnel, und am Ende des Tunnels stand das Tor.
Rahn müsste schieße – Ricken schoss
Manch einer unter den älteren Zuschauern mag sich in diesem Moment an Herbert Zimmermanns Live-Reportage vom WM-Endspiel 1954 zwischen Deutschland und Ungarn erinnert haben. An sein Unvergessenes „Rahn müsste schießen – Rahn schießt . . .“ Rahn hieß diesmal Ricken. Ricken musste schießen – Ricken schoss – und der Rest klang 1994 im Dortmunder Westfalenstadion genau so wie 40 Jahre zuvor im Berner Wankdorfstadion: „Tooooor!!!“ Mit dem rechten Fuß nagelte Ricken den Ball aus zehn Metern Entfernung via Lattenunterkante ins Netz. Ein Schuss mitten ins pure Glück.
BVB-Fan Vito_Corleoneerinnert sich auf schwatzgelb.de:
„Die Süd explodiert, aber es ist keine einfache Explosion, keine Verpuffung. Die Süd bebt wie ich es noch NIE davor und NIE danach erlebt habe. Die Explosion dauert minutenlang, so stelle ich mir einen Multiorgasmus vor, hier multipliziert durch die Tausende auf der Süd, die im gleichen Moment so etwas Unbeschreibliches erleben.“
Sammer fand nicht so schöne Worte, gestand aber mit reichlich Pathos: „Dieses Ergebnis hat bei mir unglaubliche Emotionen freigesetzt. Vergleichbares habe ich erst zweimal erlebt: Beim Gewinn der Deutschen Meisterschaft mit Stuttgart und bei der Geburt meiner Tochter Sarah.“ Hitzfeld versuchte das wundersame Geschehen medizinisch zu diagnostizieren: „Wir waren klinisch fast tot, aber mit den allerletzten Herzschlägen haben wir uns aufgerappelt und ein anatomisches Wunder geschafft.“
Schule am nächstem Tag
Für Ricken, der das Angebot seines Trainers, ihm eine Entschuldigung zu schreiben, nicht annahm und stattdessen am nächsten Morgen brav die Schulbank drückte, war es das erste von mehreren legendären Europapokal-Toren. 1996/97 gegen Manchester United schoss er den BVB mit seinem goldenen Tor in Old Trafford ins Finale von München. Dort erzielte Ricken mit seinem 30-Meter-Heber zum 3:1-Endstand gegen Juventus Turin jenen Treffer, den die Fans von Borussia Dortmund anlässlich des 100-jährigen Bestehens im Jahr 2009 zum „Tor des Jahrhunderts“ wählten.
Die Europapokal-Saison 1994/95 trug Borussia Dortmund über Lazio Rom (0:1/A, 2:0/H – wieder durch ein Last-Minute-Tor, diesmal von Riedle) noch bis ins Halbfinale. Dort war Juventus Turin, wie schon in den 1993er UEFA-Cup-Endspielen, eine Nummer zu groß.
An den Jubelorkan vom 3:1 gegen Deportivo La Coruna kam lange Zeit kein Heimtor mehr heran. Erst Ewerthons 2:1-Meistertreffer gegen Werder Bremen am 4. Mai 2002 erreichte wieder vergleichbare Dezibelstärken und löste Vibrationsalarm auf der Südtribüne aus.