Duisburg.
Das Ruhrgebiet hat schon viele Legenden kommen und gehen sehen. Seit Freitag gehört auch Werner „Eia“Krämer zum Kreis der toten Heroen. Mit 70 Jahren starb der ehemalige Nationalspieler in seiner Heimatstadt Duisburg.
Es gibt Momente im Leben, die vergisst man nicht. Den ersten Schultag. Den ersten Kuss. Oder die erste Flanke von „Eia“ Krämer.
Hans Walitza, der immer noch unvergessene Torjäger vom VfL Bochum, kann sich noch ganz genau daran erinnern. „Aufstiegsrunde 1970, das erste Spiel gegen Kickers Offenbach. Auf rechts hat sich Eia durchgetankt und schlägt eine unglaubliche Flanke.“ Walitza fliegt durch die Luft, erwischt den Ball mit dem Kopf und erzielt eines der schönsten Tore der Bochumer Fußball-Geschichte. „Ich habe den Arjen Robben am Wochenende gesehen“, sagt Walitza. „Ein fantastischer Spieler! Schnell. Eine enge Ballführung. Die Flanken wie Schüsse. So war Eia Krämer.“
Am vergangenen Freitag ist der Bundesliga-Held von einst verstorben. Der Dialysepatient war in seinen letzten Lebensjahren gesundheitlich so schwer gezeichnet, dass seine ehemaligen Mitspieler ihn fast nicht wieder erkannten. „Vor zwei Jahren trafen wir uns im Vorfeld des deutschen Länderspiels gegen die Schweiz“, erzählt Willi Schulz, der 1966 bei der Weltmeisterschaft und später beim Hamburger SV gemeinsam mit Krämer gegen den Ball trat, „wir gingen zum Frühstück und er zur Dialyse. Es war unglaublich traurig.“
„Wir gingen zum Frühstück, er zur Dialyse“
Beim 80. Geburtstag des Bochumer Ehrenpräsidenten Ottokar Wüst im Dezember 2005 steht natürlich auch Krämer auf der Gästeliste. „Als ich ihn sah“, erinnert sich Hans Walitza, „musste ich weinen. Er war so schwer gezeichnet.“ Doch die Erinnerung an den Fußballer „Eia“, bleibt nicht nur den Veteranen erhalten. Erstmals auf der deutschen Fußball-Bühne im Sommer 1959, avanciert Krämer schnell zu einem der aufregendsten Offensivspieler der Oberliga West. Längst schon nennen ihn alle nur „Eia“ und die Geschichte hinter dem so geheimnisvollen Spitznamen ist fast beschämend simpel: Seit der junge Werner Schulkameraden mit Eiern bombardierte, rufen ihn die Jungens aus der Nachbarschaft im tiefen Ruhrpott-Deutsch „Eia“.
1963 gehört er mit seinem Heimatverein Meidericher SV zu den Gründungsmitgliedern der neu geschaffenen Bundesliga und schenkt dem Karlsruher SC unter den Augen von Bundestrainer Sepp Herberger gleich mal zwei Hütten ein. „Er war schlichtweg genial“, schwärmt Schulz von dem Mann, den er in den ersten Jahren noch als Gegenspieler vor sich hatte. Für den Verteidiger eine grausame Aufgabe: „Er war so schnell, so trickreich und wenn er wollte ist einfach vom rechten auf den linken und dann wieder auf den rechten Flügel gewechselt.“
Wo liegt Meiderich?
Der MSV aus Duisburg wird in der ersten Bundesliga-Saison Zweiter hinter dem 1. FC Köln und verhilft damit einem ganzen Stadtteil zu nationaler Berühmtheit. Vor dem ersten Spieltag hatte HSV-Star Uwe Seeler noch gefragt: „Meiderich, wo liegt das denn?“, was den kleinen Verein aus dem Ruhrgebiet zu einer längst legendären Vereinshymne animierte: Dem „Zebra-Twist“. Seither singen sie im Wedaustadion: „Zebrastreifen weiss und blau, ein jeder weiss genau: das ist der MSV! Wo alle Mann, mit Helmut Rahn, sie kämpfen, greifen an, gut abgewehrt, und wieder vor, dann Krämer, Pass und Tor.“
1966 – „Eia“ ist längst nicht mehr wegzudenken aus Duisburg – steht er im Kader für die Weltmeisterschaft in England. Kurz vor dem ersten Spiel gerät Krämer mit Bundestrainer Helmut Schön aneinander. Der Dresdener wirft dem schnellen Mann aus dem Ruhrgebiet übermäßigen Bierkonsum vor und befiehlt, den Alkoholgenuss einzustellen. Ben Redelings hat die Anekdote in seinem Buch „Dem Fußball sein Zuhause“ verewigt: „Völlig geschockt kam der Spieler des MSV nach dem Gespräch aus der Kabine, öffnete sich erst einmal ein schönes Pülleken Bier zu Beruhigung und trat dann, ohne weiter über die Konsequenzen nachzudenken, dem Bundestrainer erneut unter die Augen: „Wenn Sie so mit mir sprechen, Trainer, dann fahr ich lieber nach Hause. Denn dat Biertrinken, dat können Sie mir nicht nehmen!“
Ein schönes Pülleken zur Beruhigung
Zu Hause lassen kann Schön den Biertrinker aus Leidenschaft nicht, „dann hätten seine Spieler gemeutert“, mutmaßt Redelings. Stattdessen straft ihn der Nationalcoach mit Verachtung, lediglich beim 2:1-Erfolg gegen Spanien lässt Schön den Wirbelwind auflaufen. Und ein Jahr später endet mit einem lahmen 1:0-Erfolg gegen Bulgarien die Nationalmannschaftskarriere von Werner Krämer nach nur 13 Einsätzen.
Für Hans Walitza, der ab 1969 als Mittelstürmer beim VfL Bochum mit Krämer ein großartiges Gespann bildet, immer noch eine der größten Verschwendungen von Talent in der deutschen Fußball-Geschichte. „Ich habe Jahre nach Eias Karriereende auf einer DFB-Veranstaltung Sepp Herberger getroffen. Er hat mir gesagt: „Der Krämer hätte locker 80 Länderspiele gemacht, wenn er nicht…“ Und dann hat Herberger eine bestimmte Geste gemacht.“ Der Alt-Bundestrainer ahmt Rauch- und Trinkbewegungen nach.
„Eia Krämer war ein Lebemann“, sagt Ben Redelings, der in seinem Film „Die 11 des VfL“ Heinz-Werner Eggeling zu Wort kommen lässt: „Ich war total geschockt, als ich als blutjunger Spieler beim VfL in die Kabine kam und Eia Krämer als Einziger dort saß und eine qualmte. Ich weiß sogar noch die Marke: Ernte 23.“
„Der Krämer hätte 80 Länderspiele machen können“
Bevor ihn sein alter Trainer aus Meidericher Zeiten, Hermann Eppendorf, 1969 zurück in die Heimat des Ruhrgebiets holt, spielt Krämer zwei Jahre lang beim Hamburger SV. Die Norddeutschen kratzen 1967 für den Hochbegabten die damalige Rekordsumme von 175.000 D-Mark zusammen und lotsen ihn in an die Elbe. Wirklich glücklich wird er dort nicht.
„Das war eine gewaltige Umstellung für einen Jungen aus dem Ruhrgebiet“, sagt der gebürtige Wattenscheider Willi Schulz, der vor seiner Zeit beim HSV fünf Jahre beim FC Schalke 04 über die Sportplätze grätschte. Drei Monate habe Krämer gebraucht, um sich in der Großstadt zu akklimatisieren. „Der Eia“, sagt Schulz, „war ein Kamerad durch und durch. Ehrlich und vor allem: loyal gegenüber seinen Mitspielern.“ Als sich der Neuzugang einen fahrbaren Untersatz kaufen möchte, unterschreibt er den Kaufvertrag noch in der Kabine. Torwart Horst Schnoor, nebenbei Autohausbesitzer, ist um einen Verkauf reicher.
Doch obwohl Krämer mit dem HSV 1968 ins Finale des Europapokals der Pokalsieger vorstößt (dort allerdings gegen den AC Milan chancenlos ist), ist das Abenteuer Hamburg schon ein Jahr später wieder beendet. Hermann Eppendorf, der alte Vertraute, trainiert inzwischen den VfL Bochum und holt Krämer zurück in die Heimat. Für den VfL ein Jahrhunderttransfer.
„Eia“ wird Bochums Jahrhunderttransfer
1970 erreicht Bochum die Aufstiegsrunde, doch trotz des viel besungenen Kopfballtreffers von Hans Walitza schafft der VfL den Aufstieg in die Bundesliga nicht. Offenbachs Roland Weidel grätscht dem leichtfüßigen Krämer kurz nach dessen torbringender Flanke so brutal in die Beine, dass der den Rest der Aufstiegsrunde zum Zuschauen verdammt ist. Bochum verpasst den Aufstieg.
Was 1970 nicht gelingt, klappt eine Saison später: Bochum ist erstklassig, und „Eia“ darf noch einmal in der Bundesliga zaubern. 1973 beendet er seine Laufbahn.
Nach der Jahrtausendwende versagen bei Werner Krämer die Nieren. Der einstige Held des Ruhrgebiets wird zum Dialysepatienten. Ende des vergangenen Jahres hat die Krankheit seinen Körper zerfressen. Die Ärzte müssen einem Mann, der mit seinen Füßen eine ganze Region verzauberte, die Beine amputieren.
Am vergangenen Freitag, dem 12. Februar 2010, stirbt Werner Krämer, den alle nur „Eia“ nannten, im Alter von 70 Jahren. (11 Freunde)