Tischtennis-Star Timo Boll hat die Rolle der deutschen Nummer eins abgegeben. Mit Dimitrij Ovtcharov verbindet ihn enge Freundschaft. Ein Doppel-Interview
Düsseldorf.
Wir treffen Tischtennis-Europameister Dimitrij Ovtcharov (27) und seinen Vorgänger Timo Boll (35) in der letzten Vorbereitungsphase auf die Olympischen Spiele in Rio de Janeiro im Leistungszentrum in Düsseldorf. Beide sind bestens gelaunt; sie haben nicht weniger vor, als die Goldmedaille im Team zu gewinnen. Ein Gespräch über dicke Freundschaft unter härtesten Konkurrenten.
Herr Boll, sind Sie manchmal ein bisschen neidisch auf Dimitrij?
Timo Boll: Ich wäre noch mal gern so jung wie er, klar, aber sonst? Wieso?
Weil er die olympische Einzelmedaille hat, die Sie so gern hätten!
Boll: Ach so – die hat er sich auch ver-dient. Ich kämpfe noch drum. Es wird natürlich nicht einfach, aber die Hoffnung stirbt zuletzt.
Und Sie, Herr Ovtcharov, um was beneiden Sie Timo?
Dimitrij Ovtcharov: Um vieles. Erst mal um sein begnadetes Talent. Dann um seine unglaubliche Gelassenheit. Du kannst gegen Timo ein Spiel, einen Kampf auf Leben und Tod haben, dann geht das 12:10 im siebten Satz aus, in die eine oder andere Richtung. Da sind andere Leute Tage und Wochen mit beschäftigt. Mit Timo kannst du dich fünf Minuten später schon ganz normal unterhalten, so nach dem Motto: Ja, das war ein gutes Spiel von mir, ich hab mein Bestes gegeben. Dann ist es aber auch vorbei für ihn. Ich bewundere diese Gelassenheit, die er da hat. Ich könnte so viel erzählen.
Wir bitten darum!
Ovtcharov: Timo hat viel erreicht, wovon die meisten Tischtennisspieler wie ich träumen, auch andere Sportler. Er war Weltranglistenerster, hat alle Rekorde gebrochen in Europa, hat Weltturniere wie den Weltcup und die Grand Finals gewonnen. Und über so viele, ich glaube 15 Jahre so starke Leistungen zu bringen, ohne jemals groß abzurutschen, das ist schon Wahnsinn.
Wann und wo sind Sie sich das erste Mal begegnet – als Konkurrenten an der Tischtennis-Platte?
Ovtcharov: Ich weiß es noch, das war 2006, als wir zusammen auf einem Lehrgang zur WM in der Nähe von Wolfsburg trainiert haben. Das war etwas ganz Besonderes für mich. Kannst du dich daran auch erinnern, Timo?
Boll: Haha, lustig, ich kann mich sogar an eine Begebenheit davor erinnern. Bei einer Show-Tournee, der Suchanek-Tour, da hast du gegen Matthew Syed, einen englischen Topspieler, gewonnen.
Ovtcharov (verblüfft): Ach ja, ja, stimmt!
Boll: Da warst du noch jünger, so 14 Jahre. Bei diesen Veranstaltungen haben immer Matthew und ich an verschiedenen Orten ein Show-Match gespielt, danach durfte noch ein Lokalmatador ran. In Hannover warst du das. Du hast nur gleich gegen Matthew gewonnen. Das war meine erste Erinnerung an Dima. Nur Matthew fand es nicht lustig.
Ihr Eindruck war also: recht positiv. Und wie war Ihrer, Herr Ovtcharov?
Ovtcharov: Timo hat mich schon warmherzig empfangen, als ich noch so jung war und auch weiter in der Nationalmannschaft begleitet. 2007 bei der EM war ich das erste Mal dabei, Timo hatte immer eine sehr beruhigende Art. Er hat mir viel Vertrauen geschenkt in der Mannschaft, das ich zurückzahlen konnte. Dann haben wir auch noch im Einzel gegeneinander gespielt. Das war ein ganz besonderes Erlebnis. Wir haben sehr viel trainiert miteinander in der Zeit, ich war oft bei ihm zu Hause.
Es heißt, dass in Timo Bolls Haus immer ein Bett frisch bezogen ist, falls Sie mal Zeit haben, zum Trainieren vorbeizukommen …
Ovtcharov: … genau. Ich habe von diesem Training natürlich viel mehr profitiert, denn Timo war zu der Zeit viel besser als ich.
Hat sich dieses positive Gefühl auch nicht verändert, als immer klarer wurde, dass Sie dem Platzhirsch seinen Nummer-eins-Status streitig machen würden?
Ovtcharov: Überhaupt nicht. Timo ist realistisch, sehr gelassen in seiner Art. Und wenn man selbst älter wird und sieht, da ist einer unheimlich heiß und auch nicht schlecht, dann ist es normal, dass der mal vorbeizieht. Vermutlich wäre es anders gewesen, wären wir gleich alt und Timo noch in seiner „allerbesten“ Phase gewesen.
Herr Boll, warum haben Sie Ihr Revier nicht besser verteidigt?
Boll: Ich habe es ja auch als Profit für mich gesehen, dass Dima so gut wurde und dass wir uns auf die großen Turniere gemeinsam vorbereiten konnten. Mir hat es geholfen, auf dem hohen Niveau weiterspielen, mich weiterentwickeln zu können. Ich habe ihn nicht als Konkurrenten gesehen, wir waren auch abseits vom Tischtennis super befreundet. Und in der Halle waren wir Partner, die sich gegenseitig gepusht haben. Man braucht dieses hohe Level im Training, um sich noch steigern zu können.
Herr Ovtcharov, Sie sind der große Statistiker, also wissen Sie bestimmt, wie es im direkten Vergleich zwischen Ihnen steht?
Ovtcharov: Puh, wir haben so oft gegeneinander gespielt, das weiß ich nicht. Es muss ausgeglichen sein. Anfangs hatte ich meist das Nachsehen, aber zuletzt habe ich öfter gewonnen (er holt sein Smartphone aus der Tasche).
Herr Boll, wie war das Gefühl, als Sie wussten: Jetzt überholt er mich?
Boll: Man konnte die Entwicklung schon gut spüren bei Dima. Er war schon sehr früh gut. Vor 2008 hat er dann noch mal einen Riesensprung gemacht. Das merkte man auch im Training. Vorher hatte ich fast immer gewonnen, in der Phase dann nicht mehr. Da habe ich schon gewusst, was kommt.
Trotzdem hat es bis 2012, 2013 gedauert, bis er Sie als deutsche Nummer eins abgelöst hat, nach mehr als zehn Jahren.
Ovtcharov: Ja, das war aber auch schwer! Ich meine, Timo war vielleicht zehn Jahre die Nummer eins in Europa. Das zeigt seine Konstanz. Seit gut drei Jahren habe ich jetzt diese Position. Das ist ein schwerer Schritt, an einem so starken Spieler vorbeizukommen.
War es ein befreiendes Gefühl?
Ovtcharov: Ich war einfach stolz. Ich hatte ja keinen Null-Acht-Fünfzehn-Spieler abgelöst, sondern einen, der zehn Jahre am Stück Nummer eins in Europa gewesen ist. Wenn man das geschafft hat, macht einen das stolz.
Gibt es Ereignisse, die Sie besonders zusammengeschweißt haben im Nationalteam?
Ovtcharov: Wir haben uns sehr intensiv gemeinsam vorbereitet auf die Olympischen Spiele. Als dann unser beider Traum in Erfüllung ging mit dem Finaleinzug im Team, hat uns das schon sehr zusammengeschweißt. Wir haben von 2007 bis 2014 gemeinsam in vielleicht 50 Länderspielen viermal verloren, und das viermal gegen China, das war schon eine besondere Konstanz.
War 2008 besonders emotional? Als klar war, Sie stehen im Finale gegen China?
Ovtcharov (legt sein Smartphone triumphierend beiseite): 5:4 für mich im direkten Vergleich bei internationalen Wettbewerben! Aber wir haben ja außerdem im Verein noch häufig gegeneinander gespielt, die Gesamtbilanz ist deutlich höher. Zu dem Spiel gegen Japan: Ich kann mich noch erinnern, wie ich da bei Timo zugeschaut habe, das war eine Qual. Wahnsinn. Hohe Anspannung.
Hat das Ihre Freundschaft noch vertieft? Wie leben Sie diese Freundschaft?
Boll: Wir waren schon vorher gute Kumpels. Das war kein besonderer Auslöser, aber ein besonderer Moment, den man immer gemeinsam erlebt haben wird. So viele solcher Ereignisse hat man nicht im Leben. Eine Weißt-du-noch-Geschichte.
Sie sind sehr unterschiedliche Typen, der eine die Ruhe in Person und das riesige Talent. Der andere sehr emotional, eher ungeduldig und ein sogenannter Fleißspieler. Wieso vertragen Sie sich so gut?
Ovtcharov: Es gibt ja auch viele Ehepartner, die sehr unterschiedlich sind. Und verheiratet sind bis an ihr Lebensende. Wir müssen nicht alle gleich sein, um uns zu verstehen. So ist das bei Freundschaften auch.
Haben Sie sich auch schon mal richtig gestritten? Das kommt in den besten Freundschaften vor. Und in Ehen …
Boll: Wir? Nö. Es gab nie einen Anlass. Da müssen Sie eher mal bei unserer Damenmannschaft ein paar Interviews führen (beide lachen).
Es gibt ein Beispiel aus dem deutschen Tennis, Becker/Stich – die haben sich nicht sehr gemocht, aber 1992 für ihren gemeinsamen Traum vom Olympiasieg in der Öffentlichkeit zusammengetan, sind wie Freunde aufgetreten und haben tatsächlich Gold im Doppel gewonnen. Danach ging wieder jeder seiner Wege. Undenkbar für Sie so eine Zweckgemeinschaft?
Ovtcharov: Ich glaube, das sind Persönlichkeiten, die gibt es im Tischtennis auch und in anderen Sportarten, die sind extrem auf sich fixiert, auf ihren eigenen Erfolg. Gönnen dem anderen vielleicht nicht so viel. Das finde ich bei Timo so außergewöhnlich. Ich habe bei ihm von Anfang an gespürt, dass er mir meine Erfolge gegönnt hat. Das ist gerade im Sport nicht gang und gäbe.
Eines würden Sie sich bestimmt gegenseitig gönnen: eine Medaille, möglichst die goldene, in Rio. Was muss dafür passieren?
Ovcharov: Gegen China haben wir es nie ganz geschafft, 2010 bei der WM in Moskau und 2012 bei den Olympischen Spielen in London waren wir aber nah dran. Da müssen wir quasi über unserem Limit spielen, um sie zu besiegen.
Das Ziel Olympiasieg gegen China besteht aber nach wie vor?
Ovtcharov: Wir reisen sicher nicht nach Rio, wie wir nach Peking gereist sind. Da war das Erreichen des Finales so, als wenn man schon über die Ziellinie gelaufen ist. Danach musste man einen Tag eben noch mal kommen, aber das war nicht mehr dafür da, um irgendwie zu gewinnen. Da war ich am Limit meiner Vorstellungskraft. Timo hatte es vor 2008 schon geschafft, gegen die Chinesen zu gewinnen, ich mittlerweile auch einige Male. Natürlich verliert man deutlich öfter, aber zumindest hat man den Glauben, dass es möglich ist. Wenn einmal alles zusammenläuft, geht das.
Was hatten die legendären Schweden Waldner und Persson, was Sie nicht haben? Die haben die Chinesen über Jahre hinweg geschlagen.
Boll: Schwächere chinesische Gegner. Auch! Auf jeden Fall. Dazu war das eine super Generation mit Karlsson …
Ovtcharov: … Appelgren, Lindh – das pusht die ganze Gruppe. Wenn wir auch noch solche Spieler hätten! Dann steigert man sich viel schneller und viel früher. Dann hätten wir vielleicht einen noch höheren Level erreicht.
Und China leistet es sich einfach, den Weltranglistenzweiten Fan Zhendong aus dem Olympia-Kader zu streichen!
Boll: Das macht es einen Tick interessanter. Zhang Jike ist zwar amtierender Olympiasieger, hat aber die letzten ein, zwei Jahre nicht wie ein Olympiasieger gespielt. Ob die Entscheidung für ihn richtig war, wird man sehen in Rio.
Wenn es in Rio nicht klappt, Herr Boll, gibt es einen weiteren Anlauf in Tokio 2020?
Boll: Moment: Wenn was nicht klappt?
Na das mit der Einzelmedaille oder Gold im Team.
Boll: Mir macht es viel Spaß, Tischtennis zu spielen. Ich mache das nicht von einer Medaille abhängig. Eher von meinem Körper und meiner Lust.
Jörgen Persson erreichte mit 40 in Peking das Halbfinale. Sie wären in Tokio 39.
Boll: Es ist sicher nicht unrealistisch, dass ich da noch mal auftauchen werde.
Und wie stehen die Chancen jetzt in Rio?
Ovtcharov: Da hängt viel von der Auslosung, Tagesform, Glück, Vorbereitung, den Bedingungen in Rio ab. Ich glaube, es ist wirklich alles möglich, vom ersten bis zum letzten Platz.
Boll: Man muss einen guten Start haben, gut ins Turnier reinkommen, dann spürt man schnell, ob es weit gehen kann oder nicht. Die Chance auf eine Medaille im Einzel ist realistisch. Es muss halt alles passen.
Was wäre das perfekte Finale für Sie? Ein 3:0 gegen China? Oder lieber ein 3:2?
Boll: Ach, so ein 3:2 wäre doch wunderschön!
Ovtcharov: Mir würde jeder Sieg Spaß machen, das Ergebnis spielt keine Rolle.