50 Jahre Wembley: Rätsel um ikonisches Seeler-Foto gelöst
Uwe Seeler ist das Gesicht des WM-Teams von 1966. Das Bild vom geknickten Kapitän ging um die Welt. Jetzt ist erstmals geklärt, wie das Bild entstand.
Dortmund.
Seit 50 Jahren hat der Mythos einen Namen: Wembley. Heute vor einem halben Jahrhundert trifft Geoffrey Hurst mitten in die deutsche Fußballseele. In der 101. Minute im WM-Finale zwischen England und Deutschland drischt Hurst den Ball vorbei an dem Herner Torwart Hans Tilkowski. Der Ball knallt unter die Latte, springt von der Linie wieder ab, Wolfgang Weber köpft ihn ins Aus. Von der Linie? Der war doch drin – reklamieren die Engländer. Das Schiedsrichtergespann gibt den Gastgebern recht: Tor, England führt 3:2. Wird mit 4:2 im Wembleystadion Weltmeister.
Und Deutschland? Bleibt sogar die Hoffnung auf späte Gerechtigkeit verwehrt. Weder Fernseh- noch Fotoaufnahmen können bis heute endgültig beweisen, ob der Ball auf der Linie oder im Tor war. Das Geheimnis ums Wembley-Tor bleibt.
Viele Interpretationen
Doch pünktlich zum 50. Jahrestag lüftet das Deutsche Fußballmuseum in Dortmund ein anderes Wembley-Geheimnis. Es ist die Entschlüsselung des Sportfotos des Jahrhunderts.
Als solches wurde 2000 das Bild des Fotografen Sven Simon, der eigentlich Axel Springer junior hieß, gewählt. Es zeigt den deutschen Kapitän Uwe Seeler, wie er 1966 mit gesenktem Kopf den Platz verlässt. Ein Sicherheitsmann legt ihm eine Hand auf den Rücken, der WM-Protokollchef weist den Weg vorbei an der Blaskapelle. Hinten geht Bundestrainer Helmut Schön. Simon schrieb zu seinem Werk: „Vom Kampf gezeichnet, vom Gegner geschlagen, an einem Irrtum zerbrochen.“ Das Bild vereint Enttäuschung und Erschöpfung. Ausgezeichnet wurde das Foto, weil es „aufrechte Verlierer“ zeigt, „die gebeugt waren, aber still und ohne Hass und Hader das Spielfeld verlassen.“
Die Symbolkraft des Fotos ist ungemein. Doch ist es wirklich nach dem Spiel entstanden? Ist es wirklich ein Moment der Enttäuschung oder schaut Seeler nur auf seine Schnürsenkel? In den vergangenen Jahren gab es viele Diskussionen und Interpretationen.
„Uwe Seeler hat in Gesprächen erklärt, dass er zwar glaube, das Bild sei nach dem Spiel entstanden, er konnte es aber nicht beweisen“, erzählt Manuel Neukirchner. Für den Direktor des Deutschen Fußballmuseums Anlass, nachzuforschen. „Ich dachte mir: Das kann doch nicht sein. Da müssen wir hinterher.“ Er und sein Team wälzen Literatur, ehe sie den Kontakt zu der Fotoagentur suchen, die Sven Simon damals mitgegründet hat. „Wir haben uns mit dem Geschäftsführer zusammengesetzt, er hat für uns die alten Kontaktabzüge herausgesucht“, berichtet Neukirchner.
Die Ergebnisse finden sich nicht nur in einer Sonderausstellung, die am Sonntag anlässlich des Wembley-Jubiläums eröffnet wird, wieder, sondern werden auch in dem Katalog „Wembley 1966. Ein Mythos in Momentaufnahmen“, der im Klartext-Verlag erscheint, in all seinen Facetten beleuchtet.
50 Jahre lang hat niemand herausfinden können, was nun die Negativstreifen zeigen: Das Foto entstand nach dem Spiel. Uwe Seeler ist gezeichnet von der Emotionalität der Situation.
Warum nach dem Spiel? „Wir haben nach dem Bild keine Spielszenen mehr auf dem Film gefunden. Es gibt nur noch Bilder von Engländern auf dem Feld. Auf einem weiteren Film sind dann die Siegerehrung zu finden“, erzählt Neukirchner. Zudem hat das Museums-Team auch die Kontaktstreifen anderer Fotografen ausgewertet. Auch hier folgen keine Spielszenen mehr. Und: „Der Hammer ist, dass wir sogar Sven Simon entdeckt haben, wie er das Foto schießt.“
Wann die Kapelle spielte
Auf allen Abzügen ist zudem die Kapelle zu sehen. Lange Zeit wurde behauptet, diese sei nur zur Halbzeit auf dem Platz gewesen. Doch allein alte Fernsehbilder konnten bereits belegen, dass die Kapelle auch nach Abpfiff dort war.
Fast noch wichtiger als die Klärung des Zeitpunkts ist Neukirchner die „Einordnung in den narrativen Zusammenhang“. So ist auf den zwei folgenden Abbildungen nach dem Sportfoto des Jahrhunderts auf den Kontaktstreifen zu erkennen, wie Seeler sich an die Stutzen fasst, etwas zuppelt. Im dritten Bild sieht man erstmals Seelers Gesicht. Diese Aufnahmen waren bisher unbekannt.
Seelers Blick verrät Erschöpfung
Vor allem das letzte Bild bestätigt den hohen symbolischen Charakter des Bildes: Der Blick des Kapitäns hat eine Leere, verrät Erschöpfung, Enttäuschung. „Wir haben den Kontext entschlüsseln können“, sagt Neukirchner, „Die Mimik zur Körperhaltung des Jahrhundertbilds – das passt einfach. Dieses Foto ist die szenische Auflösung, es zeigt den unverstellten Gefühlsausdruck des Wembley-Spiels, und ist damit zurecht das Sportfoto des Jahrhunderts.“
Das vorletzte Geheimnis von Wembley ist somit gelüftet. Bleibt nur noch eines: War das 3:2 ein Tor, oder war es keines? Ob es überhaupt entschlüsselt werden sollte? Uwe Seeler hat da eine klare Meinung: „Nein, so wie es ist, soll es auch bleiben. Das Tor bleibt ein Mythos. Und die Engländer haben ja auch erstklassig gespielt, sie haben es genauso verdient, Weltmeister zu werden.“ Versöhnliche Worte. Passend zum Jubiläum.