Die Fahrt mit der Pferdekutsche zur Insel Neuwerk lässt sich kaum ein Urlauber entgehen
Moritz und Leica wackeln mit dem Po. Und ich überlege, ob Pillen gegen Reise-Übelkeit doch eine gute Idee gewesen wären. Die Dame neben mir hat – sie gestand es vor der Abfahrt – tatsächlich zur Tablette gegriffen. Ich fand das übertrieben.
Und jetzt: Windstärke fünf, alles schaukelt, von den beiden Pferdehintern vor meinen Augen mal ganz abgesehen. Der holzbeplankte Boden unter den Füßen hüpft auf und ab, schüttelt und bockt. Die Nordsee kann nichts dafür, sie ist gar nicht da im Moment. Es herrscht Ebbe, und im Watt vor Cuxhaven hat sich der allmorgendliche Treck gen Westen in Bewegung gesetzt: Bestimmt 20 Pferdewagen, vollbesetzt mit dick eingemummten Urlaubsgästen, schunkeln fröhlich über den schlammig-holprigen Grund der Insel Neuwerk entgegen. Jenem kleinen Eiland, das – Luftlinie gemessen – rund neun Kilometer vor der Küste im Schlick der Nordsee steckt.
Wir machen mit der „Wattenpost” ‚rüber – acht Fahrgäste und Kutscher Jan Brütt, hoch auf dem gelben Wagen, sozusagen. So hoch, dass man eine Leiter erklettern muss, um einzusteigen, dafür aber nicht gleich wegtreibt, wenn ein Priel mal tiefer ist, als er aussieht. Und so gelb, dass man aus der Ferne schon erkennt: Der Postbote kommt.
Die 90-minütige Kutsch-Fahrt vom Ortsteil Duhnen, die erst parallel zum Ufer, dann in einem weiten Bogen zur Insel führt, ist eine der touristischen Hauptattraktionen des Nordseeheilbades Cuxhaven. Doch Jan Brütt kutschiert nicht nur fußfaule „Nordrhein-Vandalen”, wie Vertreter der größten Urlaubergruppe hier liebevoll genannt werden, durchs Watt.
Seit 1880 bringen die Brütts im Auftrag der Post Briefe und Pakete auf die nur drei Quadratkilometer große Insel, und daran hat sich bis heute nichts geändert. Jan Brütts Ur-Ur-Ur-Großvater Peter war der erste, der – damals noch als Kurierreiter – die Insulaner mit Post versorgte. Der vererbte das Gewerbe an seinen Sohn Christian weiter.
Der wiederum lernte Sohn Otto an, und irgendwann nahm Brütts Jan – nunmehr in sechster Generation – die Zügel in die Hand. Passagiere befördet der 46-Jährige von Mai bis Oktober, die Post aber kennt keine Gästesaison: Zweimal pro Woche – auch im Winter – bringt Brütt Medikamente, Kleinkram und Briefe ‚rüber auf die Insel, auf der es eigentlich kaum jemanden gibt, dem man schreiben könnte: Gerade einmal 35 Einwohner leben auf Neuwerk.
Immerhin, Sonderwünsche lassen sich bei dieser überschaubaren Kundenschar meistens problemlos erfüllen: „Wenn einer von drüben anruft und gerade ’ne Dose Haarspray braucht”, ruft Brütt gegen den Wind und rückt die dicke Wollmütze auf dem Kopf zurecht, „dann bring‘ ich ihm die auch noch mit.”
An kalten Januartagen, wenn oben auf dem Bock der Atem im Schnurrbart zu Eis gefriert, kann so eine Kutschfahrt durchs Watt eine verdammt einsame Angelegenheit sein, an kalten Frühsommertagen wie diesem – und an warmen erst recht – fährt Brütt Kolonne, und ohne Voranmeldung ist dann kein Platz im Wagen zu bekommen.
Zehn Betriebe bieten von Cuxhaven aus Kutschfahrten durch das größte zusammenhängende deutsche Wattgebiet zwischen Elbe- und Wesermündung an – ab Mai herrscht täglich Hochbetrieb auf der Watt-Renne nach Neuwerk.
Wen wundert’s? Fast jeder Cuxhaven-Urlauber will wenigstens einmal einen Fuß auf jenes seltsam eckig geformte Stück Land mit seinen drei Dutzend Einwohnern setzen, das zum 140 Kilometer entfernten Hamburg gehört, und auf dem es eine Schule mit vier Schülern, drei Autos, ein paar Gasthäuser, einen Friedhof – und für die Lebenden vornehmlich eins gibt: Ruhe. Weil aber der dreistündige Fußmarsch durch den zähen Schmodder nicht jedermanns Sache ist, gibt’s die beliebten Kutschfahrten – echt Watt für Wandermuffel.
Moritz und Leica traben durch den Morast, Wasser spritzt auf, wenn die dicken Gummireifen Pfützen und Priele durchschneiden, das schmatzende Geräusch der Hufe auf dem nassen Sand mischt sich mit dem Rauschen des Nordost-Windes. Und die Seeluft, die so herrlich prickelt in der Nase, beruhigt die Magennerven schneller als jede Pille aus der Reiseapotheke.
Brütts Passagiere halten Ausschau nach den Lachmöwen, die über uns ihre Kreise ziehen, beobachten die schwarz-weißen Austernfischer, die im Schlick nach einer Mahlzeit suchen oder zählen Container-Schiffe, die hintereinander aufgereiht die Elbmündung passieren. Faszinierend ist diese Fahrt durch die eintönig-graue Wildnis und ein bisschen gruselig: Genau hier, wo unsere Reifen jetzt ihre Abdrücke im Modder hinterlassen, steht bei Flut das Wasser drei Meter hoch.
„Das Watt”, erzählt Brütt, der seit 30 Jahren auf dem Bock sitzt, „ist trügerisch, es verändert sich ständig.” Deswegen zählt im erlesenen Kreise der Wattfahrer vor allem Erfahrung. Drei Jahre lang dürfen Neulinge nur in der Kolonne mitfahren. Nach frühestens sechs Jahren im Watt kann die Hauptfahrer-Prüfung abgelegt werden, in der die Kutschen-Kapitäne profunde Kenntnisse über Wetter und Strömungsverhältnisse nachweisen müssen.
Hauptfahrer wie Jan Brütt sind die Chefs im Watt, alljährlich legen sie die Wegstrecke zur Insel neu fest und markieren sie mit Pricken, jenen Wegmarkierungen, die wie umgedrehte Besen alle 20 Meter aus dem Meeresboden ragen. Und ihr Wort ist Gesetz: „Wenn ein Hauptfahrer sagt, wir kehren um, dann wird umgekehrt.“
Heute wird nicht frühzeitig kehrt gemacht, weder Nebel noch Gewitter, der schlimmste Feind des Wattfahrers, dräuen. Nach 90 Minuten haben Moritz und Leica festen Boden unter den Hufen. Neuwerk ist erreicht, und im Schatten des Leuchtturms, eines wuchtigen Backsteinbaus aus dem frühen 14. Jahrhundert, wird gerastet.
Wer will, klettert die 138 Stufen zur Aussichtsplattform hoch. Andere statten dem Naturpark-Zentrum der Insel einen Besuch ab oder stärken sich im Imbiss- und Andenkenladen „Dütt un‘ Datt” mit Bismarckherings-Brötchen für 3,10 Euro. Und dann – nach einer Stunde Aufenthalt – wird es Zeit für die Rückkehr. Die nächste Flut kommt bestimmt.