Autor Stephan Hermsen fuhr mit dem Fahrrad vom westlichen Ruhrgebiet nach Paris. Vier Tage hat er gebraucht, an zweien fuhr er 192 und 175 Kilometer. Fast hätte eine Kuh der Reise jedoch ein jähes Ende bereitet.
Essen/Paris.
Eine Kuh! Ausgerechnet eine schlachthausreife alte Kuh hätte meiner Fahrt nach Paris beinahe ein Ende gemacht. Nicht einmal hundert Kilometer hatte ich in den Beinen auf dem Weg vom Niederrhein nach Paris, als sich mir auf dieser kleinen Straße ein LKW in den Weg stellt. Und weil ich schwer zu bremsen bin, wenn ich mich als Radler schon mal aufraffe und ein bisschen Geschwindigkeit aufgebaut habe, denke ich, in kühnem Schwunge hinter der Ladeklappe des Wagens vorbei und danach wieder auf die Straße aufzufahren.
Bloß: Hinter dem Laster ist ein Zaun und ein Grundstück mit eben besagter Kuh. Die sieht mich, senkt den Kopf und will mich auf die Hörner nehmen. Sie reißt sich los, will Anlauf nehmen, während ich panisch versuche, das Fahrrad zwischen mich und die Kuh zu bekommen und irgendwie in dem Morast noch ein paar Meter zu machen.
In vier Etappen nach Paris
Das war die gefährlichste Situation meiner Reise. Da ist’s viel einfacher, durch den Pariser Feierabendverkehr zu radeln, getreu der alten Ulrich-Wickert-Regel, die er als Frankreich-Korrespondent einst für Fußgänger aufstellte: Einfach gehen, nicht links und rechts gucken, weil sonst die Autofahrer denken, du hättest sie gesehen und nicht bremsen. Allerdings lagen zwischen der Kuh und dem Arc de Triomphe 500 Kilometer.
Warum Paris? Warum mit dem Fahrrad? Nun, weil es vom westlichen Ruhrgebiet in die drei großen Städte Berlin, Paris und London ungefähr gleich weit ist und weil es mir Spaß macht, dort zu radeln, wo man normalerweise nicht radelt. Vier Etappen wurden es am Ende, zwei davon mit 192 und 175 Kilometern deutlich länger als geplant, weil die Hotels nicht immer da stehen, wo ich sie gern gehabt hätte.
Bis die Beine zu Pudding werden
Die schönsten und angenehmsten Radelpassagen gibt es entlang der Maas, sowohl in den Niederlanden wie auch in Südbelgien, den Raum Lüttich allerdings habe ich weiträumig umfahren. Ohnehin: Die Maas lohnt den Besuch, eine Gegend in der wir Deutschen anscheinend nichts verloren haben außer etlichen Kriegen, besticht mit einem sanften Fluss samt Radwegen auf Treidelpfaden, kanalisiert, damit die Schiffe ihn befahren können, in dem sich die bewaldeten Hügel spiegeln. Und alte Fabriken und Schachtanlagen bröseln vor sich hin, Industrieromantik plus Wildnis und Festungen aus vielen Jahrhunderten Grenzstreitigkeiten. In Huy und Dinant gibt’s sogar Gondelbahnen, mit denen man die felsigen Klippen erfahren kann.
Die Flussromantik geht zwar in Frankreich noch eine Weile weiter stromauf, inklusive Radwegen in Ufernähe, aber Richtung Paris muss man dann die Ardennen hinauf. Von Givet nach Mariembourg gibt es dafür eine schöne Piste auf einer alten Bahnstrecke mit beherrschbaren Steigungen. Dann aber, nach dem Warmstrampeln bergauf setzt einem der Wind beim Bergabrasen durchaus zu. Aber es geht ja wieder rauf. Und wieder runter. Und so weiter bis die Beine zu Pudding werden und einem der ständige Südwestwind fast die Motivation raubt.
Soldatenfriedhöfe am Wegesrand
Bis dann bei den weiten Blicken über die Hochebenen der Champagne der Wille aufkeimt, es doch noch irgendwie zu schaffen. Bis Paris hinter den verflixten sieben Bergen.
Es ist eine friedliche Gegend, heutzutage. Doch der Wegesrand wird immer wieder gesäumt von Soldatenfriedhöfen: Deutsche, Briten, Italiener und natürlich Franzosen: Die Friedhöfe sind säuberlich getrennt, auch wenn sie alle in der gemeinsamen europäischen Erde liegen.
Der eigene Körper übrigens schaltet irgendwann auf eine Art Fressmodus um: Man denkt immer an die nächste Rast und daran, wie viel Müsliriegel man noch hat. Und wie wohl der Weg weitergeht. Es entsteht eine ungemein angenehme Routine. Man muss treten, sich orientieren und essen. Und abends bloß duschen, schlafen und wieder essen. Zudem lernt man nach einer Weile, neurologische, orthopädische und muskuläre Schmerzen in Rücken, Beinen und Po sorgsam zu unterscheiden. Mein Doping besteht aus einem abendlichen Viertelliter Rotwein, etwas Aspirin und Franzbranntwein.
Nach vier Tagen am Ziel
Paris ist am Ende durchaus schwer zu erreichen. Weil im Norden der riesige Flughafen und im Osten Disneyland im Weg liegen. Dazwischen Autobahnen und Zugstrecken.
Ein kleines Schlupfloch allerdings bietet der Fluss Ourcq und der ihn begleitende Kanal, an dessen beschaulichem Ufer es eine echte Radelautobahn gibt – mitten hinein in die Stadt.
Nach vier Tagen erreiche ich sie mit meinem treuen Radel, das sich mit einem angerissenen Seilzug und einem schleichenden Plattfuß in die City quält. Nach 565 Kilometern stehe ich vorm Triumphbogen und fahre die Champs d’Elysées hinab wie die Tourfahrer. Naja, vielleicht nicht ganz – ungefähr mit einem Viertel ihrer Geschwindigkeit. Und ich frage mich, warum die sich nie ihre Spur mit Omnibussen teilen mussten.