Wenn Tausende ins Stadion eilen, muss nicht unbedingt Fußball der Grund sein. Zumal in Irland. Dort locken drei Traditionssportarten die Massen. Im Croke-Park feierten 82.300, als sich die Hurling-Teams aus Kilkenny und Galway im Endspiel gegenüber standen. Zum zweiten Mal binnen drei Wochen.
Ballincurrig.
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er King of the Road geht in die Hocke. David Murphy schlägt die 800 Gramm schwere Eisenkugel dreimal auf den Asphalt der Landstraße in Ballincurrig. Die Zuschauer am Straßenrand sprechen ehrfürchtig vom Europameister im Road Bowling, während der 29-Jährige mit verkniffenen Augen Maß nimmt. Fünf Schritte Anlauf, der Schreiner hebt kurz ab, schleudert die Kugel straßenaufwärts. Dort steht eine Menschenmenge, sie öffnet ein Spalier für die Kugel. Angeblich passieren dabei keine Unfälle. Wenige Sekunden später grölt die Masse. Der König der Landstraße hat seinen Job gut gemacht, die Kugel weit genug geworfen. Road-Bowling-Experte Seamus O’Tuama schwärmt: „Diese Technik hat kein anderer so gut drauf wie David.“
Tradition pur in dem kleinen Ort der Grafschaft Cork. Die härtesten Konkurrenten im Road Bowling kommen kurioserweise aus dem Raum Oldenburg. Konkurrenzlos sind die Iren jedoch bei ihren beiden großen traditionellen Sportarten. Dem Gaelic Football und dem Hurling. Das gibt’s nur in Irland.
Morgen wird in der Hauptstadt Dublin der Ausnahme-Zustand herrschen. 82.300 Zuschauer werden im Croke Park das Hurling-Finale zwischen den Teams der Grafschaften Kilkenny und Galway zelebrieren. Und das schon zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit.
Außenseiter Galway erzwang Wiederholung
Am 9. September endete zum ersten Mal seit 1959 ein Hurling-Finale mit einem Unentschieden (19:19). In der letzten Sekunde traf der Außenseiter aus Galway zum Remis. Im Wiederholungsspiel soll die Entscheidung fallen. Am 30. September setzte sich Kilkenny dann doch durch.
Hurling ist für die Menschen auf der Grünen Insel nicht nur Sport. Es ist Religion, Lebenselixier. Der Ire wächst mit dem krummen Schläger in der Hand auf. Heinrich Böll hat es schon 1957 in seinem Irischen Tagebuch, seiner leidenschaftlichen Liebeserklärung an Éire, beschrieben. „Schuljungen mit Hurlingschlägern unter dem Arm beten den Kreuzweg ab“, beobachtete der spätere Nobelpreisträger.
Beim Hurling spielen Teams mit 15 Aktiven gegeneinander. Mit ihrem Schläger jagen sie die Baseball ähnliche Kugel mit bis zu 180 Stundenkilometern über den Platz. Sie dribbeln und jonglieren den Ball mit dem Schläger, sie passen mit dem Handballen. Sie erzielen mit einem Schuss ins Tor – nein, die Keeper im Tor sind nicht lebensmüde – drei Punkte, ein Schuss zwischen die Stangen über dem Tor ist ein Punkt wert. Hurling und Gaelic Football (eine Mischung aus Rugby und Australian Rules Football) sind Ausdruck des ausgeprägten Nationalstolzes. Der Sportverband GAA pflegt nicht nur das irische Spiel, sondern auch die irische Sprache. GAA-Pressesprecher Alan Milton hat seine Visitenkarte zweiseitig bedruckt. Englisch und Irisch. Alan MacMaoldúin heißt der Mann in seiner Landessprache und auf den Plakaten tritt nicht Kilkenny in Dublin gegen Galway an. Cill Chainnigh trifft in Baile Átha Cliath auf Gaillimh. „Geschichte ist wichtig für uns, aber wir sind keine Sklaven unserer Geschichte“, verdeutlicht MacMaoldúin, dass der gälische Sport dem Zeitgeist folgen will.
Der Croke Park gilt als heiliger Grund
Trotzdem war es ein Staatsakt, als der Fußball-Verband in Dublin 2007 sein Stadion an der Lansdowne Road abreißen ließ, um das futuristische, aber nicht minder emotionalisierende Aviva-Stadium zu bauen. Croke Park gilt als heiliger Grund, auf dem Fußball und Rugby nur Frevel sein können. In Irland musste man Gesetze ändern, um für den Soccer im Croke Park vorübergehend die Tore zu öffnen. Sonst hätten die „Boys in Green“ ihre Heimspiele drei Jahre lang in Glasgow und Liverpool austragen müssen.
Croke Park ist Geschichte durch und durch. Wer sie kennt, weiß, warum die Iren vor dem Hurling-Finale mit jeder Faser ihres Körpers „Amhrán na bhFiann“, die irische Nationalhymne, singen, sie später die „Fields of Athenry“, intonieren, das Lied gegen „die Hungersnot und die Krone“. Eine Tribüne des Stadions, der „Hogan Stand“, ist nach dem Gaelic-Football-Spieler Michael Hogan benannt. Am Bloody Sunday 1920 töteten englische Soldaten den Sportler aus Tipperary im Croke Park während eines Football-Matches.
Die „16“ steht für die Sehnsucht nach Freiheit
14 Menschen kamen ums Leben. Die Stehtribüne heißt „Hill 16“. Erbaut auf dem Trümmerschutt des Osteraufstandes von 1916. Die 16 steht in Irland für das Rebellische, das Kämpferische, für Stolz und Leidenschaft, der Sehnsucht nach Freiheit und Unabhängigkeit vom einstigen Besatzer England. Fußball-Legende Roy Keane, der wohl kompromissloseste Kicker Irlands aller Zeiten, trug die 16 bei Manchester United und Celtic Glasgow, sorgte bei den Gegenspielern für Furcht und Schrecken – und für Knochenbrüche.
Im gälischen Sport gibt es keine Profis, es fließt kein Geld. Vielleicht gibt es deshalb auch keine Ausschreitungen. Im Gegenteil: Morgen werden Fans beider Teams gemeinsam auf den Tribünen sitzen, hinterher Freude oder Kummer gemeinsam im Guinness ertränken. Die Spieler sind Helden, aber Amateure, die nicht einmal Werbeverträge abstauben. „Die Medaille zählt“, sagt Fergal Moore, der Kapitän des Teams aus Galway, der sein Geld als Physiotherapeut verdient.
Croke Park bebte an diesem 30. September, auf der gesamten Insel – auch die Grafschaften aus Nordirland sind in der GAA eingebunden – saßen sie vor den Fernsehern. Auch an der Westküste, im verschlafenen Carna, im Herzen Connemaras, im County Galway. Hier sprechen sie Irisch, Englisch nur in Ausnahmefällen. Pubwirt Peter Fitzpatrick hatte in „Morgan’s Bar“ viel zu tun. So wie Bölls Schulkinder mit dem Hurlingschläger unter dem Arm beten, so zapft er das Guinness, andächtig, und wenn gerade das Zwölfuhrläuten dazwischen kommt, bekreuzigt er sich, ohne das Zapfen zu unterbrechen. Eins haben sie sich vorgenommen: Wenn Gaillimh siegen wird, werden sie noch weit nach der Sperrstunde feiern. Ihr Team, sich selbst – und Éire. Leider hat’s nicht gereicht. Gefeiert wurde trotzdem.