Die „American Queen“ ist der größte Schaufelraddampfer der Welt. Eine Fahrt mit ihr auf dem Mississippi ist wie eine Zeitreise – fast so als würde Huckleberry Finn hinter der nächsten Kurve auftauchen.
Memphis.
Suchscheinwerfer gleiten über das schwarze Wasser. Die Luft schmeckt nach Rauch. Aus den Bordlautsprechern kommt aufgeregtes Knacken. Gleich ist es soweit. Der Höhepunkt der Flussfahrt steht kurz bevor. Zum Glück ist es schon nach neun, also nach dem Abendessen. Denn ob man deswegen eine glacierte Entenbrust mit Safranreis stehen gelassen hätte? Mal ehrlich: Vor oder nach dem Essen – das ist die Zeitrechnung auf jedem anständigen Kreuzfahrtschiff. Nach zweitägigem Dahingleiten auf dem größten jemals gebauten Schaufelraddampfer der Welt, ist man landläufigen Banalitäten längst entglitten, inklusive der Sorgen um die Figur.
Zuweilen wirkt Chefköchin Regina Charboneau – Mississippi-Girl aus dem Uferstädtchen Natchez – höchstpersönlich an Bord. Ihre Nachtisch-Kreation aus Feigen-Pekannuss-Brotpudding mit karamellisierter Zuckersoße ist abserviert. Mit vollem Magen darf das Abenteuer gern kommen.
Steuerbord blinken Lichter. Das muss Cairo sein, die Kleinstadt im US-Bundesstaat Illinois. Lautlos huschen dunkle Schatten über das Deck: eine Brücke. „Ladies and Gentlemen“, schnarrt es aus dem Lautsprecher, „Sie sind auf dem Mississippi.“ Das Signalhorn tutet zur Begrüßung, zittert durch Mark und Bein. Zu sehen ist nicht viel: Schemen im Dunkeln, ein paar Sterne.
Hobby-Fluss-Historiker an Bord
Doch beim üblichen Nachmittagsschwatz im Navigationsraum hatte Jerry Hay, eigens angeheuerter Hobby-Fluss-Historiker – das wäre was zum Beruferaten – Karten gezeigt: Wie ein riesiges Y fließen hier der Ohio und der schlammige Mississippi zusammen. Die „American Queen“ ist wieder einmal auf ihrem Lieblingsgewässer angekommen.
Es war eine lange Fahrt. Viele Jahre war der Luxusliner in unfreiwilliges Exil verbannt. 1995 lief die 60-Millionen-Dollar-Majestät vom Stapel, wechselte Besitzer, erduldete Zwangspausen. 2008 konnte der Eigner die Raten endgültig nicht mehr zahlen. Die „Königin“ bekam den Kuckuck aufgeklebt. Armaturen wurden eingepackt, elegante Mahagoni-Möbel eingemottet, und die degradierte Dame dümpelte fortan auf einem See in Texas vor sich hin. Erst 2011 retteten Investoren sie aus der Verbannung.
436 Gästebetten
Eigentlich hatte sie ja schon einen pompösen Namen für ihre Paddelboot-Proportionen von sechs Decks, 127 Metern Länge und 436 Gästebetten. Aber weil sich Priscilla Presley, die Ehefrau von Elvis Presley, als Promi-Taufpatin fand, wurde nochmal Champagner verspritzt.
Steamboating ist nicht billig, aber besonders. Das Schwesterschiff „Delta Queen“ liegt in Chattanooga (Tennessee) als Hotelboot dauerhaft vor Anker. Die „Mississippi Queen“ wurde sang- und klanglos verschrottet. Übrig blieb die „American Queen“. Seit April 2012 ist sie als einzig authentisches Kreuzfahrt-Paddelboot wieder auf Wasserstraßen im Herzen Amerikas unterwegs.
In den Kabinen gibt es jetzt sogar Klimaanlagen
Ihr Schaufelrad funktioniert tatsächlich noch mit Dampf und ist für den Hauptantrieb zuständig. Zwei mit Diesel betriebene Ruderpropeller leisten Verstärkung. Wie riesige Grashüpferbeine treiben die gewaltigen Tandemkolben das feuerrote Paddel an. Hochgewirbelte Wassertropfen glitzern in der Sonne. Jede Stunde macht der Schmierer seine Runde und füllt rund drei Liter Öl nach. Passagiere dürfen zugucken. Es faucht und zischt. Maschinisten tragen Ohrstöpsel und kurze Ärmel. Heiß ist es hier unten.
Oben in den Kabinen gibt es neuerdings Klimaanlagen und Flachbildfernseher. Die Matratzen der hüfthohen Betten sind dick und neu. Die „Queen“ bekam eine Schönheitsoperation. Doch der Rest des Retro-Interieurs passt immer noch in eine viktorianische Zeitkapsel: Blümchentapeten, Spitzengardinen, Kronleuchter und gelb-braune Sepia-Fotos in Goldrahmen. Zierliche Frisiertische stehen neben Korbgeflechtmöbeln und wo noch Platz ist, auch weiche Polstersofas.
Das größte SteamboatDie Kabinen sind eher klein, wie es wohl für die Ära typisch war. Queen Victoria maß schließlich auch nur gut 1,50 Meter. Die Gemeinschaftsräume sind da schon großzügiger: der Card Room für Herren mit ausgestopftem Schwarzbär und gemütlichen Ledersesseln oder der Ladies Parlor mit Fransenlämpchen, Chaiselongue und Silbergeschirr auf dem Tabletttisch. Damit man gleich die Prioritäten begreift, belegt der opulente Speisesaal zwei komplette Stockwerke.
Piekfeine Damen in Reifrock-Kleidern
Wenn man die Augen zukneift, kann man sich gut vorstellen, wie piekfeine Damen in Reifrock-Kleidern und mit Federhut einst auf diesen ersten schwimmenden Palästen wandelten, als Kalifornien noch im Goldrausch steckte und Indianerhäuptling Crazy Horse geboren wurde.
Jane und Tom Elias gefällt das: „Darum fahren wir mit.“ Nach sieben Steamboat-Trips sind die pensionierten Eheleute aus Ohio bekennende Dampfschiff-Fans. Vorher, so geben sie kleinlaut zu, hätten sie auch mal Kreuzfahrten auf diesen modernen Riesenstädten auf dem Wasser gebucht, mit Tausenden von Passagieren und Partylaune, Geschäften und Gewimmel. Richtig erholt hätten sie sich dabei nicht.
Pool in der Größe von fünf Badewannen
Auf der „American Queen“ gibt es eine Handvoll verwaiste Trimmräder und einen Pool so klein wie fünf große Badewannen, der manchmal Wasser hat und manchmal nicht. Zu Schnorcheltouren oder Fahrrad-Ausflügen animiert keiner. Die meisten Aktivitäten sind Vorträge oder Lesungen.
Selbst ein Elvis-Imitator mit Kajalstiftaugen und einem offenen Brustknopf zuviel, reißt abends im Grand Saloon niemand aus den gemütlichen Polstersesseln. Ein Großväterchen in Jeanslatzhose mit Baseballkappe ist sogar eingenickt. Offiziell ist das Durchschnittsalter der Passagiere 64. Aber ein weißhaariger Paul Revere von den „Raiders“ – vielleicht noch von der ’71er Hitsingle „Indian Nation“ bekannt – witzelt von der Bühne, dass er hier mit seinen 74 Jahren wohl noch als junger Dachs durchgeht.
Das Ufer zieht an den Kabinenfenstern vorbei
Das Ufer zieht vor den Kabinenfenstern vorbei. Das National Quilt Museum in Paducah oder das über den Vogelkundler John Audubon in Henderson zählen nicht zu den wichtigen Sehenswürdigkeiten der Reise. In New Madrid (Missouri) hat Riley Bock eine Treckerrundfahrt auf Heuwagen-Anhängern für die Bootsgäste organisiert. Da kommt man sich ganz königlich vor. Am kleinen Higgerson Schulhaus tuckert der Trecker vorbei, und Riley erzählt, wie seine Oma 1927 das verheerende Hochwasser erlebte.
Seither halten Städte und Straßen Sicherheitsabstand oder ducken sich hinter Flutwänden. Von Bord sieht man oft nur einen Wasserturm in der Entfernung, Verladeanlagen und Schleusen, manchmal Stahlträgerbrücken. Dann klappt Kapitän John Sutton mit Adlernase, Pilotenbrille und dickem Goldring am rechten Zeigefinger die hydraulisch gelagerten Schornsteine automatisch vornüber, damit die „American Queen“ darunter hindurch passt.
Es hat sich wenig verändert auf dem Mississippi
Wenn man die modernen Schubkähne geflissentlich übersieht, die bis zu 15, schwer mit Kohle, Getreide und Öl beladene Barkassen durch die Fluten bugsieren, scheint sich das Leben auf dem Mississippi erstaunlich wenig verändert zu haben. Die sandigen Ufer sind steil ausgewaschen.
Reiher stolzieren durch das seichte braune Wasser. Dahinter erhebt sich ein Dschungel von Baumkronen in mehreren Etagen mit grün bemoosten Stämmen. An den meisten Stellen ist der Mississippi eine Meile breit. Aber wenn die Fahrrinne nah genug am Land vorbeiführt, flattern Schmetterlinge an Bord. Huckleberry Finns Bretterfloß könnte gut hinter der nächsten Flussbiegung auftauchen.