Die Legende ist in den Farben Blau, Beige und Gold lackiert und rattert durch faszinierende Landschaften. Der „Rocky Mountaineer“ bietet so etwas wie eine Kreuzfahrt auf Schienen, bei der das Tor zur Hölle einen grandiosen Schlussakkord setzt.
Essen.
Es ist 6 Uhr. Marie-Julie aus Montreal und Nikki aus Brighton stehen am Bahnsteig von Jasper, einem Eisenbahnkreuzpunkt in den Rocky Mountains. Während die Morgenröte über den Bergen aufzieht, plaudern die Freundinnen über die zurückliegenden Tage im Jasper Nationalpark. Die beiden haben erlebt, wie das milchige Gletscherwasser des Athabasca River in aufgewühltem Zustand aussieht. Eine Art Sandsturm ist über das Tal hinweggefegt, die Gipfel der Rocky Mountains in ein gespenstisch gelbes Licht getaucht. Als der Spuk vorbei ist, fahren sie mit der Jasper Tramway auf den 2285 hohen Whistlers Mountain. Von der Seilbahn aus sehen sie einen Schwarzbären.
Nun aber warten die beiden darauf, dass sie den Rocky Moutaineer betreten können. Vor den blau-beige-gold lackierten Panoramawagen rollt das adrett uniformierte Personal rote Teppiche aus. Nach dem formvollendeten Abschluss dieser Zeremonie wird jeder Passagier dann sogar per Handschlag begrüßt. „Willkommen in einer kanadischen Legende“, sagt eine junge Niederländerin, die für die Sommersaison in dem Zug angeheuert hat.
Launisches Wetter beschert „Twin Peaks“-Atmosphäre
Als die Gäste auf den breiten Fauteuils im Oberdeck Platz genommen haben, setzt sich der Rocky Mountaineer gegen 7 Uhr mit Kurs auf Westnordwest behäbig in Bewegung. Das Wetter ist weiterhin launisch, doch als nach wenigen Kilometern der beste Blick auf Mount Robson angekündigt wird, ist der mit fast 4000 Metern höchste Berg der kanadischen Rockies noch gut zu sehen. Bald aber zieht Regen auf und die Atmosphäre erinnert an die Fernsehserie „Twin Peaks“: Nadelwälder, Nebel und viel, viel Wasser bestimmen das Bild.
Marie-Julie und Nikki macht das wenig aus. Sie haben längst im Speisewagen Platz genommen. Zum Frühstück serviert die Crew Kaffee und kunstvoll aufgetürmte Omelett-Kompositionen, die unter Anleitung des französischen Chefkochs Frederic Couton in der beträchtlich großen Bordküche frisch zubereitet werden. Vieles hier erinnert an die Zeiten, als Eisenbahn fahren noch glamourös war.
Weil auch ein Güterzug die eingleisige Strecke benutzt, bleibt das Tempo sehr gemächlich. Einen Fahrplan muss der Mountaineer nicht einhalten. Hauptsache, am frühen Abend wird das Städtchen Kamloops in der Provinz British Columbia erreicht. Nach exakt 114,2 Kilometern kommt der Zug zum Stillstand. Die Bordzeitung weist Pyramid Falls aus, einen 91 Meter hohen Wasserfall. Mittlerweile folgen die Gleise dem North Thompson River, der später in den Fraser River mündet. Das Personal serviert Merlot aus British Columbia. Und die schroffen Rockies machen vorübergehend einer seichten Hügellandschaft Platz.
Kurz vor Kamloops wird die Landschaft dann gänzlich unkanadisch: Der alte Handelsposten ist von zwei Bergketten umgeben, weshalb die Niederschläge gering sind und die Temperaturen in den Sommermonaten auf eher kalifornische Werte von mehr als 30 Grad ansteigen können. Am Abend ziehen die „Vancouver empties“ auf. So nennen die Einheimischen die Wolken, die aus Richtung der Pazifikmetropole kommen – und aus denen es so gut wie nie regnet. Die Abendsonne legt ein unwirkliches Farbspektrum über die Bergketten.
Der zweite und letzte Tag der Reise beginnt mit einem Exkurs in die Tierwelt. Fraser River, der bei Vancouver in den Pazifik mündet, gehört zu den bevorzugten Lebensräumen des Rotlachses. Bei einer Zählung im Jahr 2010 wurde die Population auf 22 Millionen Exemplare geschätzt. Immer wieder werden die Passagiere vom redseligen Personal auch auf Fischadler und Weißkopfseeadler hingewiesen, deren meist auf abgestorbenen Nadelbäumen oder Telekommunikationsmasten platzierte Domizile vom Panoramawagen aus deutlich zu sehen sind. „Kreuzfahrten auf Schienen sind deutlich besser als auf dem Meer“, meint Marie-Julie.
Auch das „Tor zur Hölle“wird problemlos durchquert
Bei nun deutlich wärmeren Temperaturen finden sich immer mehr Passagiere auf dem Balkon des Waggons ein. Das hat seinen Grund, denn auf einem mehr als wackelig aussehenden Holzbauwerk überquert der Mountaineer den Fluss. Die „Skuzzy Creek Bridge“ mit ihren nur kniehohen Geländern führt über eine Schlucht. Übertroffen wird die Dramaturgie nur noch am „Hell’s Gate“. Es ist die engste Stelle des Flusslaufs. Hier herrscht eine gewaltige Strömung: der Wasserspiegel kann je nach Saison um bis zu 24 Meter variieren.
Langsam geht die Berglandschaft in eine weite Ebene über. Am späten Nachmittag rollt der Zug durch die Vorstädte Vancouvers. Ein letztes Glas kanadischen Weins wird ausgeschenkt. Dann heißt es Abschied nehmen vom Panoramawagen. Marie-Julie und Nikki freuen sich nun auf ihre Lieblingsstadt und deren Sushi-Bars. Vorzugsweise mit Rotlachs aus dem Fraser River.