Die Königsblauen und ihr Stadtteil haben schon bessere Zeiten erlebt. Aber es gibt einiges zu entdecken – wie einen Heiligen in Fußballschuhen.
Gelsenkirchen.
Auf den ersten Blick ist es ein normales Kirchenfenster mit einem Heiligen. Doch schon beim zweiten Hinsehen fällt auf: Dieser Aloisius von Gonzaga mit seinem Heiligenschein trägt weißblaue Stutzen und Stollenschuhe und hat einen Fußball zwischen den Füßen. Das gibt es nur hier in Schalke. Ja, in Schalke. Auf Schalke sagt man nur im Stadion.
Die Kirche St. Joseph im Gelsenkirchener Stadtviertel Schalke ist nicht mehr als Gotteshaus in Betrieb und deshalb meist geschlossen. Aber Gästeführer
Olivier Kruschinski , 45, hat den Schlüssel.
Während er öffnet, erklärt er: „Wir haben in Gelsenkirchen eine sehr spezielle Situation: sehr wenig Selbstbewusstsein bei den Menschen, die hier leben, und sehr viel Interesse von außerhalb.“
Die Welt zu Gast in Schalke
Jedes Jahr kommen – wenn nicht gerade ein Virus grassiert – knapp vier Millionen Menschen nach Gelsenkirchen: Besucher aus Sevilla, Buenos Aires, Madrid, Barcelona, Liverpool und so weiter. „Wir haben nicht die touristischen Hotspots wie Paris oder Rom, aber wir haben sehr viel Ruhrgebiets-DNA“, sagt Kruschinski selbstbewusst. „Und das ist natürlich an erster Stelle Schalke.“
Er betrachtet das Viertel als riesiges fußballhistorisches Freilichtmuseum: Da sind die Geburtshäuser und Gräber der Vereinshelden, da ist der ehemalige Tabakladen von Ernst Kuzorra (1905-1990), heute eine Anlaufstelle für Schalke-Fans.
Bergleute und Fußballspieler
Und da ist das denkmalgeschützte Prunkstück, die
Kampfbahn Glückauf , das alte Stadion des Vereins aus seiner goldenen Zeit in den 1930er und 1940er Jahren. Im vergangenen Jahr wurde das prachtvolle Eingangsportal von 1928 durch die Stiftung Schalker Markt originalgetreu nach den alten Plänen wieder aufgebaut.
„Der Name „Glückauf“ zeigt die Symbiose von Bergbau und Fußball“, erläutert Kruschinski. Doch es ist die St.-Joseph-Kirche, die nach seiner Überzeugung den Markenkern von Schalke bewahrt. Ihre Buntglasfenster aus den ersten Nachkriegsjahren erzählen die Geschichte der Stadt und ihres Clubs.
Da sind Glasbläser, Handwerker, Bergmann und Chemikant – einst die Säulen der Gelsenkirchener Industrie. Da ist die Heilige Barbara, Schutzheilige der Bergleute, mit Förderturm und Emscher. Und da ist eben der Heilige Aloisius als Fußballspieler.
Woanders ist es auch nicht schön
„Oli“ Kruschinski ist in Gelsenkirchen geboren, aber in Lyon getauft. Seine Mutter ist Französin, er besitzt beide Staatsbürgerschaften, ist zweisprachig. Insofern hat er auch den Blick von außen. „Paris ist jetzt auch nicht nur schön“, ist seine Meinung. Es erfordert einige Courage, das an einem regengrauen Tag in Schalke zu sagen.
In dem vielleicht berühmtesten Stadtteil Deutschlands beziehen vier von zehn Menschen Hartz IV, zwei von drei Kindern leben in Armut. Und doch tut sich etwas: Kruschinski selbst ist die treibende Kraft der breit aufgestellten Stiftung Schalker Markt, die das Viertel revitalisieren und umgestalten, die berühmten Orte neu inszenieren will. Mehrere Projekte sind schon verwirklicht worden: So zieht sich vom Emscherstrand bis zum Gelsenkirchener Musiktheater eine Lichtinstallation durch den Stadtteil. Nach Einbruch der Dämmerung beginnt es königsblau zu leuchten. Wobei das Blau nicht nur auf Schalke, sondern auch auf die Renaturierung der Emscher anspielt.
Fußball als sozialer Kitt
Heute sei der Traditionsverein Schalke – nach Mitgliedern der viertgrößte Fußballclub der Welt – eine „Integrationsmaschine“, sagt Kruschinski. „Das ist der soziale Kitt. Egal aus welchem Land du kommst, zu welchem Gott du betest: Schalke funktioniert immer.“
Doch was sagt Olivier Kruschinski zur derzeitigen Lage des Vereins? Seine Antwort fällt überraschend abgeklärt aus: „Für viele Menschen hier vor Ort ist das aktuell nicht das zentrale Thema. Die haben aufgrund der Pandemie und ihren Folgen andere Sorgen, unter anderem um ihre eigene Zukunft, um ihren Arbeitsplatz“, sagt er.
Der Profi-Fußball sei in Corona-Zeiten eine Blase, ein Paralleluniversum. „Das Erlebnis Schalke ist die Teilhabe, und die findet nicht statt. Ich muss meinen Kindern jedes Wochenende erklären, warum die da frisch gestylt und sich umarmend in der Arena rumrennen dürfen, während sie selbst nicht mehr zum Training dürfen.“ (dpa)