Um einen Therapieplatz für Kinder zu finden, brauchen Familien viel Geduld. „Ohne Beziehungen wären wir aufgeschmissen gewesen“, sagt ein betroffener Vater.
Essen.
Irgendwann wussten die Eltern, dass Liebe und Verständnis nicht mehr ausreichen. Vielleicht, weil ihr Adoptivsohn Bastian (*) immer wieder etwas von zu Hause stahl und verkaufte, weil seine Gewaltausbrüche zunahmen und seine sexuellen Verhaltensauffälligkeiten. Und weil er eines Nachts an ihrem Bett stand und ihnen ein Spielzeugschwert an den Hals hielt.
„Es war erkennbar notwendig, dass wir professionelle Hilfe brauchten“, sagt Peter Müller (*). Doch ebenso, wie klar war, dass der damals 15-Jährige eine psychotherapeutische Begleitung benötigte, wurde schnell deutlich, dass an eine kurzfristige Therapie nicht zu denken war. Mehrere Monate Wartezeit sind in NRW – speziell im Ruhrgebiet – die Regel.
Deutliche Veränderung
Nur den persönlichen Kontakten einer befreundeten Psychologin war es zu verdanken, dass der Ingenieur aus Essen kurzfristig einen Therapieplatz für Bastian finden konnte: in Düsseldorf, wo der Versorgungsgrad dreimal besser als im Revier ist. Peter Müller nahm den Aufwand für die Fahrten (drei Jahre lang, zweimal in der Woche) trotzdem gerne in Kauf: „Sonst wären wir aufgeschmissen gewesen“, weiß er.
Das Alter der Patienten von Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten reicht von 0 bis 21 Jahren. Dementsprechend vielfältig sind auch die Probleme der Kinder und Jugendlichen, darunter:
Schrei-Babys und Säuglinge mit Fütterungsstörungen, Kindergartenkinder mit Trennungsproblemen, Schulkinder, die sich einnässen oder einkoten, Kinder, die nicht sprechen, ADHS-Kinder, Mädchen mit Essstörungen oder Kinder und Jugendliche mit traumatischen Erlebnissen.
Der Bedarf nach einer Psychotherapie ist nach Meinung von Amelie Haffer im Vergleich zu früher gewachsen. Ursache sei unter anderem, dass die Familien-Sippe (und damit viele Ansprechpartner) weggefallen sind, die hohen Trennungsraten, dass das mitmenschliche Klima rauer geworden sei und für die Familien insgesamt eine sehr viel höhere Belastung bestehe – unter anderem durch hohe Arbeitslosigkeit.
„Zu Freuds Zeiten gab es eher die klassischen, neurotischen Störungen“, sagt Haffer. „Heutzutage sind es eher Bindungsstörungen. Dass man Gefühle zu einem unbelebten Objekt wie einen Computer entwickelt, gab es bislang nicht.“
Die Folgen mag er sich gar nicht ausmalen. Denn vor allem im ersten halben Jahr der Therapie stellten die Eltern eine deutliche Veränderung bei ihrem Sohn fest: „Es war verblüffend, unglaublich, eine absolute Entlastung. Plötzlich gab es Empathie, Momente des Innehaltens. Das war deutlich spürbar.“
Schnelle Hilfe ist die Ausnahme
Nur wenige haben das Glück wie er, über persönliche Kontakte einen Therapieplatz finden zu können. Schnelle Hilfe ist die Ausnahme. Der Anrufbeantworter und das Setzen auf eine Warteliste – wenn es überhaupt noch eine gibt – die Regel.
Amelie Haffer (47), Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin, Obfrau in der Kreisstelle Essen und Ausbilderin in Düsseldorf, schätzt, dass sie den nächsten freien Nachmittags-Termin für einen neuen Patienten in etwa einem Jahr anbieten kann.
Aber: Wer immer bei einem Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten anruft, braucht wirklich Hilfe. „Wenn sich die Eltern melden, dann brennt es“, sagt Haffer. Und Peter Müller bestätigt: „Das macht man ja nicht aus Jux und Tollerei. Allein dieses Gefühl, versagt zu haben, die Anerkennung des eigenen Scheiterns, muss man erst einmal überwinden.“
Enge Zusammenarbeit mit Hospizen
Nicht bei allen spielt schlechtes Gewissen oder Scham eine Rolle. Manche Eltern – oder auch Jugendliche selbst – melden sich, weil es ein akutes, traumatisches Erlebnis gibt, das eigentlich sofort Hilfe erforderlich macht: Etwa, weil gerade ein Elternteil oder ein Geschwisterkind schwer krank oder gestorben ist. „Wenn sich dann jemand an mich wendet, kann ich doch nicht sagen: Melden Sie sich bei dem Nächsten“, sagt Haffer. Deshalb versucht sie, für solche akuten Notfälle zumindest immer einen Platz freizuhalten. Auch, weil sie aus der engen Zusammenarbeit mit Hospizen weiß, wie wichtig die Betreuung der Kinder ist: „Wenn bei ihnen jemand Nahestehendes gestorben ist, funktionieren sie erstmal.“ Oft kommen die Symptome erst später – und stehen auf den ersten Blick gar nicht im Verhältnis zur eigentlichen Ursache. Eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) etwa.
Zu wenig Plätze, zu viel Medikamente
Dass der Anteil der verschriebenen ADHS-Medikamente in den letzten Jahren um 300 Prozent gestiegen ist, führt die Analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin auch darauf zurück, dass es viel zu wenig Therapieplätze gibt. Und Kinderärzte immer häufiger zum Rezeptblock greifen. Erst letzte Woche sei eine 17-Jährige mit einem „depressiven Einbruch“ bei ihr gewesen.
Eine Arzt habe ihr zuvor eine Spritze gegeben: eine Depot mit Psychopharmaka. „Erschreckend“, sagt die Therapeutin kopfschüttelnd. „Das hat auch etwas mit Menschenbild zu tun.“ Doch offenbar sei der Einfluss der Pharmaindustrie und der finanzielle Aspekt so beherrschend, dass man in der Gesellschaft „heute lieber repariert, als an die Ursachen zu gehen“.
Gruppentherapie wäre hilfreich
Peter Müller und seine Frau haben zwei Jahre nach Bastian noch ein eigenes Kind bekommen. Heute ist ihre Tochter Melanie 16 Jahre alt – und schottet sich von ihrer Außenwelt immer mehr ab. Freunde existieren hauptsächlich in ihrer Computerwelt, in die sie sich immer mehr zurückzieht. Den Herausforderungen der realen Welt stellt sie sich nicht. Ideal für das Mädchen wäre es, meint auch Amelie Haffer, wenn sie sich bei einer Gruppentherapie mit anderen Jugendlichen erfahren und austauschen könnte. Auch in Essen gibt es solche Angebote von Psychotherapeuten. Peter Müller hat schon angerufen und gefragt, ob es dort einen freien Platz gibt. Die Antwort erübrigt sich.
(*Name geändert)