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Warten aufs Geld – seit 19 Jahren

Warten aufs Geld – seit 19 Jahren

Dortmund. 

Den 8. September 1994 wird Gerhard Pestka nie vergessen. Ein langer Arbeitstag liegt hinter dem selbstständigen Raumausstatter aus Dortmund. Gerhard Pestka begibt sich auf den Heimweg über die Wittbräucker Straße in Dortmunds ländlichem Süden. Plötzlich taucht vor ihm der Kühlergrill eines Fahrzeugs auf. Wie aus dem Nichts kommend rast der Opel Kadett auf Pestkas BMW zu. Später wird die Polizei ermitteln, dass der Fahrer des Kompaktwagens zum Überholen angesetzt hatte, ohne den Gegenverkehr zu beachten.

Gerhard Pestka hört nur noch einen lauten Knall, spürt, wie sein Kopf nach vorn schleudert und im Airbag landet. Die Wucht des Aufpralls quetscht den Oberkörper des großen Mannes in den Sicherheitsgurt. Sein rechtes Knie donnert gegen den Zündschlüssel, das linke gegen das Armaturenbrett. Doch Pestka kann aus eigener Kraft aus dem Fahrzeugwrack klettern – mit nur leichten Blessuren, wie er damals denkt. Dann sieht er, dass sein Gegenüber keinen solchen Schutzengel gehabt hat. Vier junge Leute saßen im Kadett, drei überleben den Aufprall schwer verletzt. Für einen 25-jährigen Mann hingegen kommt jede Hilfe zu spät.

Verwickelt zu sein – wenn auch schuldlos – in einen Unfall, bei dem ein Mensch sein Leben gelassen hat: Diesen Gedanken kann Gerhard Pestka kaum ertragen. Seine eigenen Blessuren, seine blauen Flecken und Prellungen – sie scheinen ihm belanglos. Eine Übernachtung im Krankenhaus lehnt Pestka ab. Er lässt sich von seinem Sohn nach Hause bringen.

Seltsam schief auf seinem Stuhl

„Das war wahrscheinlich mein größter Fehler“, sagt Gerhard Pestka heute. Der 66-Jährige sitzt in seinem Büro und ringt um Fassung. Pestka ist am Ende – mit den Nerven und finanziell. 19 Jahre ist der Unfall her und doch so präsent wie ehedem. Dreimal wurde sein Knie operiert, einmal die Hüfte. Um ein künstliches Hüftgelenk, prophezeien ihm die Ärzte, komme er nicht herum. Pestka hinkt, wenn er die Treppe hinuntergeht, er sitzt seltsam schief auf seinem Stuhl, rutscht unruhig hin und her wie jemand, den dauernde Schmerzen plagen. Nur mit Medikamenten seien die zu ertragen, sagt er.

Das Knie, die Hüfte: Irgendetwas stimmt nicht mehr mit seinem linken Bein. Das merkt Pestka erst Wochen nach dem Unfall. Ein Arzt attestiert ein „nicht aufklärbares Beinleiden“. Wegen der dauernden Schmerzen belastet er das Bein kaum noch, Muskeln bilden sich zurück, was den Bewegungsapparat schwächt. Einmal stürzt er, das Kreuzband reißt. Ein Teufelskreis.

Nach den Knieoperationen kann Pestka anderthalb Jahre nicht arbeiten. Seinen Betrieb hält er nur noch mühsam über Wasser. Von den einst 13 Mitarbeitern müssen zehn im Laufe der Jahre gehen. Kunden springen ab, Aufträge gehen flöten. Heute ist Gerhard Pestka ruiniert, seine Altersversorgung komplett im Betrieb versickert.

Für Gerhard Pestka ist klar: Das malade Bein ist eine Spätfolge des Unfalls. Anerkannt habe das so richtig niemand – aus Pestkas Sicht am wenigsten die Haftpflichtversicherung des Unfallverursachers, die LVM in Münster. Natürlich ist die Sache verzwickt. Besser wohl, er wäre in der Nacht nach dem Unfall im Krankenhaus geblieben.

So gab es Gutachten und Gegengutachten. Seit all den Jahren liegt Pestka im Clinch mit den Versicherungen, erst mit der Berufsgenossenschaft, dann mit der LVM. „Wir haben einen längeren Atem als Sie“, habe die ihm mal gesagt. Zeugen dafür hat Pestka nicht.

Kosten trägt das Armenrecht

Auch seine Rechtsschutzversicherung hat der Dortmunder längst verloren. Pestkas Prozesskosten trägt inzwischen der Steuerzahler. Armenrecht. Damals, kurz nach dem Unfall, erhielt Pestka ein Handgeld von 4000 DM. Schmerzensgeld floss erst 14 Jahre später. 28 000 Euro erstritt Pestka von der LVM, plus Zinsen. Doch das reicht dem Mann hinten und vorne nicht zum Überleben. Nun geht es um den Verdienstausfall. Der ist im Falle eines selbstständigen Kleingewerbetreibenden besonders schwer zu ermitteln. Klären soll das ein weiterer Gutachter. Warum die LVM sich sperrt? Der Anwalt der Versicherung wollte sich auf Nachfrage zum Fall nicht äußern.

Entscheiden muss das Dortmunder Landgericht. Auch von dem ist Pestka tief enttäuscht. „Immer wieder verschleppt worden“ sei seine Sache, sagt er. Das hat ihm – ungewöhnlich genug – sogar Deutschlands höchstes Gericht bestätigt. Pestkas Anwalt Gerd Klinkhammer erwirkte eine Verfassungsbeschwerde. Karlsruhe trieb die Dortmunder Kollegen daraufhin zur Eile an: Die „Untätigkeit des Landgerichts Dortmund“ verletze den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht, heißt es in einem Schreiben der 2. Kammer des Ersten Karlsruher Senats. Eine Ohrfeige für die Richter in Dortmund.

Auf seinen Anwalt kann Gerhard Pestka übrigens bis heute bauen. Klinkhammer übernahm die Causa Pestka vor 19 Jahren als Routinefall. Heute ist der Jurist 75, seine Kanzlei längst geschlossen. Gerhard Pestka ist Klinkhammers einziger Mandant. Den wollte der Rechtsanwalt auch im Ruhestand nicht im Stich lassen.