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Und nach dem Tod kommt der Entrümpler – was bleibt von einem Leben?

Und nach dem Tod kommt der Entrümpler – was vom Leben bleibt

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Foto: Montage: Konrad von Faber
Zuletzt war Onkel Willi auf Hilfe angewiesen. Die NRZ hat den alten Mann begleitet, hat erzählt, wie seine Angehörigen versuchten, seine Pflege zu organisieren. Jetzt ist er gestorben. Er wurde 77 Jahre alt. Wir blicken noch einmal zurück – und vermissen einen bemerkenswerten Menschen.

Essen. 

Am Ende hatte das Leben nicht mehr viel Würde für ihn übrig. Drei Jahre hatte er sich nur mühsam im Rollstuhl fortbewegen können, versorgt von Pflegedienst, Putz- und Wäschefrauen, bis er eines Nachts aus dem Bett fiel und stundenlang auf dem Fußboden liegen blieb, weil er vergessen hatte, den Notruf-Knopf am Handgelenk zu drücken.

Nach Wochen im Krankenhaus, wo die Ärzte zunächst erwogen, dem Schwerstkranken doch noch künstliche Kniegelenke einzusetzen – gestoppt wurden sie schließlich von seinem schlechten Allgemeinzustand – kam er in ein Pflegeheim und starb. Schlief einfach ein zwischen Frühstück, das er schon seit Tagen nicht mehr angerührt hatte, und püriertem Mittagessen, das ihm die Schwestern gerade bringen wollten. Nun ist Onkel Willi tot. Er wurde 77 Jahre alt. Vor wenigen Tagen haben wir einen Waschkorb voller Unterlagen aussortiert. Drei Aktenordner sind übrig geblieben, ein Dutzend Zinnbecher, ein paar alte Fotos. Und die Erinnerungen.

Formulare, Paragraphen, Garstigkeiten

Onkel Willi hat uns begleitet, nicht andersherum, auch wenn es so aussah. Über die letzten Jahre seines Lebens war mehrfach auch in der NRZ zu lesen, wie er nach dem Tod seiner Lebensgefährtin in eine kleine Wohnung zog, wie er auf immer mehr Hilfe angewiesen war und wie sich diejenigen, die sich nun um ihn kümmerten, durch den Pflegestufenantragsdschungel kämpften mit all seinen Formularen, Paragraphen und Garstigkeiten.

Wir haben im Umgang mit Onkel Willi viel gelernt – Demut angesichts seiner Bescheidenheit, sich über ein Stück Kuchen zu freuen, das man ihm mitbringt, oder über einen Anruf, einen kurzen Besuch. Wie kostbar die Zeit war, die ihm auch seine Pfleger schenkten, es war oft mehr, als ihm laut Gutachten an Minuten für Waschen, Kämmen, Rasieren oder Zum-Klo-gehen zustand.

Gauner „erleichterte“ den alten Mann um 600 Euro

Wir haben viele nette Menschen durch Onkel Willi kennengelernt – patente Wäscherinnen, fürsorgliche Putzfrauen. Nicht kennengelernt haben wir – leider – den üblen Gauner, dem es an der Haustür gelang, den alten Mann um 600 Euro zu erleichtern.

Wir haben es aber nicht mehr geschafft, für Onkel Willi eine höhere Pflegestufe bewilligt zu bekommen oder den Schein, um auf einem Behindertenparkplatz zu parken. Und obwohl wir es uns stets vorgenommen haben, hatten wir immer etwas Wichtigeres zu tun, als den Onkel samt Rollstuhl ins Auto zu packen und spazieren zu fahren. Das ist schade. Alleine konnte er die Wohnung nicht mehr verlassen.

Je hilfloser, desto höher die Zuzahlung

Zum Schluss, im vorbildlich geführten Pflegeheim, bekam er als bettlägeriger Bewohner die Pflegestufe 2 ganz schnell – und wir lernten kopfschüttelnd, dass er von seinem Gesparten um so mehr zuzahlen muss, je hilfloser er ist. Statt 1900 Euro, wie bei Pflegestufe 1, musste er nun rund 2200 Euro aus eigener Tasche zusteuern, die Heimkosten fraßen die ganze Rente von 1400 Euro auf und knabberten Monat für Monat 800 Euro vom Sparbuch weg. „Bei Pflegestufe 3 wäre das Spargeld noch schneller weg. Aber dann kann man ja Sozialhilfe beantragen“, versuchte die Pflegedienstleiterin zu trösten.

Von Bettgittern, Bestattern und einem Bodendeckerreihengrab 

Und wir staunten, als das Amtsgericht uns zum Ortstermin lud, mit einer Richterin und einem Anwalt am Bett des verwirrten Onkels vorbeischaute, um die Notwendigkeit zu bestätigen, nachts Bettgitter anzubringen. Der Arzt hatte sie seinem unruhigen Patienten verordnet. Sowas muss seit ein paar Jahren von Amts wegen bewilligt werden…

„Bitte schnell Bestatter rufen“

Der Anruf von seinem Tod ereilte uns in einem Einkaufszentrum. Da stand man nun zwischen all’ den Menschen und nahm Wortfetzen wahr wie: „Es ist zu warm. Kein Kühlraum. Bitte schnell Bestatter rufen.“ Und: „Herzliches Beileid!“ Weil wir so rasch handeln mussten, haben wir erst am Abend gemerkt, wie traurig wir waren.

Gute Bestatter sind in so einem Todesfall ein Segen. Unsere Frau S. ging ebenso warmherzig wie pragmatisch die Aufgabenliste durch: Todesanzeige, Trauerbriefe, Blumenbukets, Grabredner, und so weiter. Für die Kosten sei gesorgt, stellte sie fest. Onkel Willi hatte, wie die meisten seiner Arbeitskollegen, die mal bei Thyssen gearbeitet haben, als junger Mann eine Sterbeversicherung abgeschlossen: „Damit ich vernünftig unter die Erde komme!“ Etwas mehr als 5000 Euro, so teuer war die Beerdigung. Den größten Teil – 2845,13 Euro – bekam die Stadt für das „Bodendeckerreihengrab“ mit Namensplatte, Feld 2BDE, Nr. 22. Onkel Willi hatte uns nicht zumuten wollen, sein Grab zu pflegen.

Ein Leben wird rückabgewickelt

Seit Wochen sind wir nun damit beschäftigt, sein Leben rückabzuwickeln. Die Bundesversicherungsanstalt hat die überwiesene Rente zurückgebucht, das Telefon ist abgemeldet, den Johannitern ist gekündigt. Sein Dispo auf seinem Konto wurde gelöscht. Tote brauchen keinen Überziehungskredit. Aber – auch als Verstorbener muss man sich an Kündigungsfristen halten, darauf besteht die Wohnungsgesellschaft: „Das ist so üblich!“, sagt die Sachbearbeiterin knapp. Dreimal Miete für ein leeres Appartement.

Dafür haben wir nun Zeit, alles auszuräumen. In den Dokumenten von Onkel Willi kann man sich verirren, in alten Volksschulzeugnissen, einem Stammbuch aus dem 19. Jahrhundert, einem Gesellenbrief aus den Fünfzigern, Urkunden zu 25, 50 und 60 Jahren IG-Metall-Mitgliedschaft, schließlich Mitteilungen über den Sozialplan, ein Zeitungsausschnitt über das Ende der Thyssen-Henrichshütte, handschriftliche Rechnungen – die Abfindungssumme geteilt durch 48 Monate – dann der Rentenbescheid. Später kommen Arztbriefe hinzu, Röntgenbilder, Diagnosen zu Hirntumor, Arthrose, den Leberwerten. Die Schrift wird krakelig, die Zettel, Rezepte, Rechnungen sind unsortiert, vergebliche Versuche, die alte Ordnung im Leben festzuhalten.

Zum Schluss kamen die Entrümpler. Sie brauchten eine Stunde, um die Wohnung zu räumen. Die Zinnbecher haben wir gerettet, Onkel Willi hat sie geliebt. Im Briefkasten lag ein letzter Brief – eine Mahnung über zehn Euro Praxisgebühr für den Notarzt, der damals Einsatz hatte, als der Onkel aus dem Bett gefallen war. Wir haben bezahlt.