„Garten“ sagen die, die ihn benutzen, ein „Freiluft-Therapieraum“ ist es für die, die ihn erfunden haben. In Zusammenarbeiten mit der Uni Duisburg-Essen entstand im Mülheimer Fliedner-Dorf ein kleines, überschaubares Stück Grün. Dort sollen altersverwirrte Menschen die Natur genießen.
Mülheim.
Was für eine friedliche Szene! Eine Gruppe alter Damen sitzt unter einem Pavillon und singt – wie passend: „Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten, die fliehen vorbei, wie nächtliche Schatten…“. Tiefes Alt mischt sich mit Glockenhell, der kleine Chor singt alle fünf Strophen. Um sie herum flanieren Senioren mit und ohne Rollator, verweilen, gehen weiter auf den geschwungenen, hell-gepflasterten Wegen.
Andere sitzen auf Bänken, die mit Gras bewachsen sind, wie mitten auf einer Wiese, lauschen und fahren mit den Händen übers Grün. Münder, Ohren, Augen, Hände und Füße sind in Bewegung. Das soll auch so sein an diesem Morgen in dem kleinen, aufgeräumten Park gleich hinter den Seniorenwohnungen im Mülheimer Dorf der Theodor-Fliedner-Stiftung; im „Sinnesgarten“, der speziell für Menschen mit Demenzerkrankungen konzipiert wurde.
Flanieren und ausprobieren
„Garten“ sagen die, die ihn nutzen, „Freiluft-Therapieraum“ die, die ihn erfunden haben. Ihnen ging es weniger um Gemüsebeete, die mit Obststräuchern und Blumenrabatten wetteifern. Der Mülheimer „Sinnesgarten“ ist sehr überschaubar, fast spärlich bepflanzt, aber mit praktischem Zubehör. Vieles lädt ein zum Sich-Ausprobieren. Ein alter Herr hat seinen Rollstuhl unter ein Geländer gefahren und macht – Klimmzüge. Fünf Stück schafft er. Und noch mal fünf.
Auf einem Stuhl steht ein großer Schuh, bepflanzt mit Sommerblumen, in einer Ecke an der Hauswand blüht ein Rosenbusch, abschneiden ausdrücklich erlaubt, an eine bepflanzte Trittleiter lehnt ein Rechen. Diplom-Ingenieurin Sonia Teimann balanciert auf einem Felsenbrocken, der bis auf einen kleinen Rest eingelassen ist in die Erde.
Teimann ist Fachfrau für „Außenflächengestaltung für pflegebedürftige Personen“ und hat den Sinnesgarten entworfen, unter Federführung der Uni Duisburg-Essen will man nun herausfinden, ob und wie sich der Gesundheitszustand pflegebedürftiger, demenzkranker Menschen durch den regelmäßigen Aufenthalt im Freien bessert.
Der Garten schwingt – gelassen und heiter
Sonia Teimann erläutert die Regeln, die es galt, einzuhalten: Helle Wege, die sich optisch abheben, in Form einer geschwungenen Acht sollen sie die Gartenbesucher sozusagen „hineinziehen“ in die Bewegung. Auch Begrenzungen gibt es, aber es sind keine Mauern und Zäune, sondern lichte Büsche. Die Sicht ist durchlässig. Von jedem Blickwinkel des Gartens kann man überall hinschauen, alles sehen.
Der Garten schwingt, die Stimmung ist gelassen und heiter. „Wir haben in den Heimen eine etablierte Sitzkultur“, sagt Verena Moos, für die Fliedner-Stiftung verantwortlich für das Projekt. „Wir wollen die Bewohner mobilisieren und wir müssen keine Angst haben, dass sie sich verirren.“ So weisen im Fliedner-Dorf riesige Mikadostäbe anstelle von Schildern den Weg von der Wohnung zum Sinnesgarten. An jedem der großen Holzstäbe kann man den nächsten schon sehen. „Was nützt ein Schild, wenn man zwar noch lesen kann, was drauf steht, aber nicht mehr weiß, was es bedeutet“, sagt Moos.
Der Chor singt mittlerweile „Mein Vater ist ein Wandersmann“. Herr R. wippt von der Rasenbank den Takt mit dem Fuß mit. Mit Herrn R. kommt man schnell ins Gespräch, er sei aus Saarn, sagt er und sei seit vier Jahren im Dorf und er sei 30 Jahre alt. Dann stutzt er und sagt schnell: „Nein, das kann nicht stimmen, aber genau weiß ich es nicht mehr.“ Singen sei Frauensache, sagt er, dann winkt er einem Mitbewohner im Rollstuhl zu, verabschiedet sich höflich und spaziert davon.
Unterm Pavillon reicht eine der ehrenamtlichen Betreuerinnen – ohne die auch das Gartenprojekt kaum funktionieren würde – mit Weißbrot und selbstgemachter Tomatenmarmelade herum. Schließlich gilt es, den Geschmackssinn ebenfalls anzuregen.
Schmecken und fühlen
„Sie müssen unbedingt die herzhafte Version probieren“, sagt Herr K., der im Rollstuhl sitzt. Die Parkisnonerkrankung mache ihm schwer zu schaffen, erzählt Herr K., und, angesichts der Tomatenbrote, wie gern er zum Essen mal wieder ausgehen würde. Leider habe die Krankheit ihn fest im Griff.
Herr K. ist ein interessierter Gesprächspartner, andere reden wenig oder gar nicht, aber sie zeigen, wie ihnen zumute ist. Frau R. und Frau M. haben Winterjacken an. Welcher Tag in welchem Monat es gerade ist, wissen sie nicht, aber sie fühlen sehr wohl, dass es einer der kälteren Tage des Sommers ist und dass sie frieren. Die zierliche Frau M. hat sogar eine Mütze aufgesetzt.
Sie steht auf, und lässt sich von einer Betreuerin in den Arm nehmen und ganz fest drücken. Frau B. zeigt ihre Handtasche, die voller Rosen ist. Herr H., der eine Stunde am Nachmittags das Gartencafé öffnet und Kaffee ausschenkt, hält einem das selbstgemachte Knoblauchöl unter die Nase. „Fallerie, fallera, fallerie, fallera ha ha ha ha“, klingt es aus dem Pavillion. Herr H. lächelt.
In Deutschland leben 1,3 Millionen Menschen mit einer Demenzerkrankung. Bis 2050 wird sich ihre Zahl verdoppelt haben.
Studie mit Einfluss auf Parks und Anlagen
Im Fliedner-Dorf in Mülheim leben 200 Senioren, darunter 60 Demenzkranke. Die 6-monatige Studie „Urbane Räume für ein gesundes Alter“ unter Federführung verschiedener Fachbereiche der Uni Duisburg-Essen untersucht, wie sich die tägliche Bewegung in der Natur auf Psyche und Gesundheit der dementen Bewohner auswirkt.
So soll herausgefunden werden, ob beispielsweise der gestörte Tag-und Nachtrhytmus beeinflußt wird. Die Ergebnisse der Studie sollen zukünftig auch in die Gestaltung von öffentlichen Parks und Grünanlagen für alte Menschen einfließen.