Das Ruhrgebiet hat seine eigenen Geschichten zu erzählen. Zu diesen gehören Sagen, die speziell in dieser Region spielen und Begebenheiten erklären.
Essen.
Hameln hat seinen Rattenfänger, der Brocken seine Hexen und Xanten seinen Siegfried. Doch auch das Ruhrgebiet hat eigene Sagen und Legenden zu erzählen.
Volkssagen, wie die Erklärungssage, sind im Pott weit verbreitet und erläutern zum Beispiel die Entstehung eines bestimmten Ortes. „Früher hatte das Volk keine Ahnung, wie ein Berg oder sonst eine landschaftsspezifische Formation entstanden ist“, sagt Dirk Sondermann, Gründer des Instituts für Erzählforschung im Ruhrgebiet. Die Antwort: eine Sage.
So wird die höchste Erhebung in Bochum dem heimkehrenden Riesen Tippulus zugeschrieben. Dessen Füße schmerzten nach einer langen Reise so arg, dass er seine Schuhe auszog und ausklopfte. Die herausfallenden Lehmklumpen bilden seitdem dem nach ihm benannten Tippelsberg. „Sagen haben im Gegensatz zu Märchen einen historischen Bezug und nennen konkrete Orte und Namen“, erklärt Sondermann. „Mammut- und Saurierknochen wurden vom Volk dabei als Riesengebeine interpretiert und dienten als Beleg für deren Existenz.“ Ein kleiner Überblick:
Das Grubengespenst von Kupferdreh
In der Zeche „Vereinigte Himmelsfürster Erbstollen“ in Essen-Byfang spukt bis heute das Stollengespenst. Ein ruheloser Geist, der zu seinen Lebzeiten den Bergleuten Unrecht antat. Als Strafe durchwandert er die Tiefen der Erde, sein Kettengerassel und Gestöhne wahrnehmbar im gesamten Bergwerk. Einmal in ihrer Nähe, erhöhten die Bergleute ihren Arbeitstakt um ihn abzulenken. Wagte dennoch einer, den Geist herauszufordern, materialisierte sich dieser, und der Übermütige verlor Verstand und Leben aufgrund des grässlichen Anblicks. Wie beruhigend, dass die Zeche mittlerweile geschlossen und versiegelt ist und niemand mehr den Geist heraufbeschwören kann. Aber das angrenzende Zechengebäude ist heute ein Wohnhaus. Jemand auf Wohnungssuche?
Raubritter Jost von Burg Blankenstein
Ritter Jost, der vor ein paar Jahrhunderten auf Burg Blankenstein in Hattingen sein Unwesen trieb und voller Niedertracht oder nur zum Spaß die Bauern malträtierte, sich an ihren Frauen verging oder Kaufleute ausraubte, hatte irgendwann den Bogen überspannt. Die Bauern belagerten seine Burg, mit dem Ziel den Ritter auszuhungern. Als dessen Reserven aufgebraucht waren, unterbreitete er den Bauern ein Angebot: Er würde sich ergeben, unter der Bedingung, dass seine Frau verschont werde und alles, was sie in drei Gängen aus der Burg trage. Die Bauern willigten ein, da die Frau des Ritters schon gebrechlich war und somit nicht viel tragen konnte.
Als die Zugbrücke sich öffnete, saß Ritter Jost selbst auf dem Rücken seiner Frau, die ihn aus der Burg heraustrug. Aller Missmut der Bauern half jedoch nichts, sie konnten dem Ritter nicht zu Leibe rücken, denn versprochen war versprochen.
Seine Gemahlin wiederholte ihre Gänge jeweils mit dem Sohn des Ritters und auch dem Burgschatz. Triumphierend passierte Ritter Jost die Belagerer, um mit den Seinen die Ruhr auf einer schmalen Brücke zu überqueren. Die Holzbalken hielten jedoch nicht dem Gewicht der Drei samt Goldschatz stand und so stürzten allesamt in den Fluss und versanken. Noch heute soll in hellen Mondnächten ein Funkeln aus den Tiefen der Ruhr kommen, welches den Standort des Schatzes erahnen lässt.
Die weiße Jungfrau von Hagen-Elsey
Jede Nacht, wenn die Glocke elf schlägt, tauche die Frau in Weiß auf. Am Brunnen des Elseyer Kirchenplatzes (Kreis Hagen) lässt sie dreimal einen Eimer in die Tiefe sinken, um sich anschließend seufzend und händeringend wieder zu entfernen. Die Legende besagt, dass sie einst ihr Neugeborenes in jenem Brunnen ertränkte und zur Strafe jede Nacht nach dem Leichnam suchen muss, bis sie ihn finden und ihre Seele erlöst wird.
Von der Sage zur urbanen Legende
Der Mariä-Bach zu Sterkrade
Im Sterkrader Kloster wurde einst ein Marienbild verehrt, welches eine Nachahmung des „Passauer Gnadenbildes der Muttergottes“ von Lucas Cranach ist. Im Zimmer eines Klosterbediensteten hängend, geschah eines Nachts etwas Ungewöhnliches: Das Bild fiel mit großem Lärm von der Wand und blieb ohne eine Stütze aufrecht stehen. Am folgenden Abend geschah unter Bewachung das Gleiche. Fortan kam das Bild in die Kirche und sorgte für die ersten Wunderheilungen. Das Nonnenkloster existiert heute nicht mehr, das Bild ist aber immer noch in Oberhausen Sterkrade in der St. Clemenskirche zu finden, wo es weiterhin große Verehrung genießt.
Die schwarze Kuhle von Waltrop
In einem sumpfigen Waldstück, nahe der Recklinghäuser Straße in Waltrop, liegt die Schwarze Kuhle umrankt von Bäumen und Büschen. Dort wo heute ein Tümpel ist, soll einst ein prächtiges Schloss gestanden haben, das von einem bösen Schlossherren bewohnt wurde. Dieser war so niederträchtig, dass er seine Mägde und Knechte selbst am Laurentiustag aufs Feld scheuchte. Diese „dankten“ es ihm, indem sie sein Anwesen verfluchten.
Während sie die Ernte einfuhren, brach ein furchtbares Gewitter los. Als sie zurück zum Hof kehrten, war das Schloss wie vom Erdboden verschwunden. An seiner Stelle ein tiefes Loch, bis zum Rand gefüllt mit Wasser, an dem man noch heute des Nachts einem schwarzen Ungeheuer mit glühenden Augen begegnen kann.
Moralischer und religiöser Hintergrund
Ein Großteil dieser Volkssagen hat einen „moralischen Hintergrund, der vor allem Kinder abschrecken und dafür sorgen sollte, dass diese sich von Gefahrenstellen fernhalten“, erklärt Sondermann. „Andere Sagen bauen auf einen religiösen Hintergrund, in denen frevelhaftes Verhalten bestraft wird.“
Neben diesen Volkslegenden haben sich auch moderne Sagen in unseren Alltag eingeschlichen. „Im Gegensatz zu den Volkssagen sind die Protagonisten jedoch nicht namentlich bekannt“, so Sondermann. Diese Geschichten werden aber genauso für „bare Münze“ genommen, wie früher im Mittelalter. Folgende Legende kursiert aktuell im Ruhrgebiet:
Urbane Legende: Der ewige Student der RUB
Wo, wenn nicht in den Gebäuden der Geisteswissenschaften der Ruhr-Universität Bochum könnte sich ein Geist herumtreiben? Sein Name: Hajo. Seine Charakteristika: lange Haare, ungepflegte Kleidung, eine Nickelbrille sowie ein muffiger Geruch. Seine Legende: Seit Mitte der Sechziger studiert Hajo an der Hochschule und ewig schreibt er an seiner Doktorarbeit, vom Ehrgeiz zerfressen, eine perfekte Dissertation abzuliefern. Ständig neue Publikationen halten ihn aber von diesem Vorhaben ab. Wo und wann man Hajo begegnen kann: In den frühen Morgenstunden, kurz bevor die Studentenflut einsetzt, schleicht er durch die Flure und Treppenhäuser der Gebäude GA, GB und GC.
Urbanen Legenden wie diese sind auch als „FOAF tales“ (Friend of a friend tales) bekannt und werden heutzutage mündlich oder übers Internet verbreitet. Meist beginnen sie mit den Worten: „Ein Freund eines Freundes hat mir erzählt…“