Frau Kunst und Herrn Spitznase heißen eigentlich Susanne Silveira und Thomas Pulhan. Aber an einer Förderschule für Hörgeschädigte brauchen sie auch einen Gebärdennamen
An Rhein und Ruhr.
„Welche Zahl steht hier bei dem Winkel?“, fragt Susanne Silveira und hält das Geodreieck an die Tafel. Anne-Maria schweigt unsicher. „Trau dich“, flüstert sie der schwerhörigen Schülerin zu, die mit ihr vor der Tafel steht. „Kann jemand helfen?“ fragt Silveira ihre Klasse 6a der David-Ludwig-Bloch-Schule in Essen, einer Förderschule für gehörlose und schwerhörige Kinder und Jugendliche. Diese Klasse ist jedoch nicht komplett gehörlos, daher funktioniert der Unterricht ähnlich wie an einer Regelschule. Die Schüler verstehen ihre Lehrerin, obwohl sie keine Gebärden verwendet.
„Die Gruppen sind bei uns nach dem Grad der Schwerhörigkeit zusammengesetzt“, erklärt Silveira. „Bei einigen Schülern ist die Hörfähigkeit etwa halbiert, weshalb sie ein Hörgerät tragen“. Andere Schüler in ihrer Klasse seien hingegen fehlhörig. „Das bedeutet, dass zwar ihr Gehör richtig funktioniert, die Verbindung zum Gehirn aber geschädigt ist. Oft ist das, was sie hören, akustisch verzerrt.“ In diesem Fall helfe kein Hörgerät, so Silveira.
Schallisolierte Räume dämmen die Störgeräusche
Damit Stühlerücken und Geschrei möglichst wenig Störgeräusche bei den Hörgeräten auslösen, sind die Klassenzimmer und Flure der Schule schallisoliert. Die Sechstklässlerin Mandy hat eine besonders starke Hörbeeinträchtigung. Für sie seien diese Maßnahmen besonders wichtig, erklärt Silveira und greift zu einem kleinen Gerät, das um ihren Hals hängt. „Mandys Hörgerät ist mit dem Sender hier verbunden. Dadurch wird meine Stimme verstärkt, während Hintergrundgeräusche ausgeblendet werden“, sagt die Pädagogin. „Der Nachteil ist allerdings, dass Mandy die Antworten der anderen Kinder nicht hört, weil die natürlich keinen Sender um den Hals haben“.
Viele der 450 Kinder und Jugendliche der David-Ludwig-Bloch-Schule waren vorher auf einer Regelschule, wo sie allerdings häufig Schwierigkeiten hatten, dem Unterricht zu folgen. Die Förderschule des Landschaftsverbands Rheinland ermöglicht ihnen einen gleichwertigen Abschluss, das Lehrangebot reicht dort bis zur Mittleren Reife.
Die Geometrie-Stunde ist zu Ende. Susanne Silveira läuft durch einen bunt gestalteten Flur zum Lehrerzimmer. Vor dem Raum hängt eine Tafel mit Fotos, auf denen jeder Lehrer die Gebärde für seinen Namen zeigt. Susanne Silveira zieht eine schlangenförmige Linie nach unten – das Zeichen für Kunst, für die sie sich sehr begeistert.
Die Gebärde ihres Kollegen Thomas Pufhan weist auf seine spitze Nase hin.Pufhan ist eine von sieben Lehrkräften an der Schule, die selbst gehörlos sind. Insgesamt unterrichten hier 65 Lehrer. Der 46-jährige ist bei gehörlosen Eltern aufgewachsen. Die Deutsche Gebärdensprache ist seine Muttersprache. Er kann hervorragend Lippenlesen und versteht dadurch auch gesprochene Worte. „Die Deutsche Gebärdensprache ist eine eigene Sprache, deren Grammatik anders funktioniert als die der gesprochenen“, erklärt er.
Seine Klasse, die 8e, schreibt gerade eine Klassenarbeit. Dabei ist es deutlich lauter als bei Klassenarbeiten an Regelschulen – immer wieder stöhnt oder ächzt jemand laut über die Aufgaben. Pufhan erklärt einer Schülerin etwas, sie stellt eine Frage, er bejaht. All das geschieht lautlos, nur die Hände tanzen in der Luft.
Pufhan ist unter seinem Künstlernamen Tomato in einem Gebärdentheater aktiv und spielt Basketball im Gehörlosen- Turn- und Sportverein Essen. Vor einigen Jahren hat er einen Gehörlosen-Chor geleitet, der seine Lieder mit Gebärden „singt“.
Noch zu Schulzeiten Pufhans durften Kinder die Gebärdensprache im Unterricht nicht benutzen. Erst 2002 trat in Deutschland das sogenannte Behindertengleichstellungsgesetz in Kraft, mit dem die Deutsche Gebärdensprache als eigenständige Sprache anerkannt wurde. Dass zunehmend auch gehörlose Lehrer wie Thomas Pufhan an Förderschulen unterrichten können, gehört zu den Verbesserungen.
„Es hat große Vorteile für die Schüler, auch von schwerhörigen oder gehörlosen Lehrern unterrichtet zu werden“, sagt er und lächelt. „Wir können ihnen ein Vorbild sein und zeigen, wie man sich in der Welt der Hörenden zurechtfindet.“ Einige von ihnen werden vielleicht selbst einmal vor einer Klasse stehen und Geometrie erklären – mit Gebärden.
Zum Hintergrund: In Deutschland leben etwa 80 000 Menschen mit Gehörlosigkeit und weitere 120 000 Schwerhörige.Gebärdensprachen sind natürlich entstanden. Jedes Land hat seine eigene Sprache, es gibt sogar Dialekte. Einen Einblick in die Gebärdensprache gibt es u.a. auf: www.spreadthesign.com