Der Fall eines 55-jährigen Insassen der Justizvollzugsanstalt Werl könnte zum Testfall werden für das neue Gesetz zur Sicherungsverwahrung. Dabei soll der Sexualstraftäter die geforderte Therapie in der JVA Werl verweigert haben, sagt die Staatsanwaltschaft.
Werl/Düsseldorf.
So lange liegen die Taten schon zurück, wegen derer der 55-Jährige hinter Gittern sitzt, dass niemand mehr darüber reden will, was er eigentlich gemacht hat. Der „Sexualstraftäter“ wird bestätigt, von Kindesmissbrauch will nicht einmal Oberstaatsanwalt Werner Wolff sprechen, nur so viel: „Die Gefahr, die von ihm ausgeht, ist noch immer so groß, dass eine Entlassung nicht erfolgen kann.“
Aber genau das könnte nun passieren: dass ein Straftäter nach mehr als fünf Jahren Haft und zwei Jahrzehnten Sicherungsverwahrung auf freien Fuß kommt, obwohl ein Gutachten aus dem vergangenen Sommer ihn als „nach wie vor gefährlich“ einstuft.
Einen entsprechenden Beschluss hat vor zwei Wochen dieselbe Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Arnsberg gefasst, die im Juni 2013 den Antrag des Mannes auf Freilassung abgelehnt hatte.
Die Gründe sind formale und noch dazu strittig: Die Kammer will Verstöße gegen damals festgelegte Auflagen erkannt haben; in einem solchen Fall gebe es „kein Ermessen“, so eine Gerichtssprecherin.
In ihrem Beschluss hatten die Richter die Justizvollzugsanstalt Werl angehalten, dem 55-Jährigen eine Therapie sowie einen Arbeitsplatz anzubieten. Beides sei aber nicht erfolgt, heißt es nun. Weil eine ausreichende Betreuung also nicht gegeben sei, müsse der Mann freigelassen werden.
Ostwestfalen wird Testfall für reformierte Sicherungsverwahrung
„Wir sind da anderer Auffassung und teilen die des Gerichts nicht“, wehrt sich Anstaltsleiter Michael Skirl gegenüber dieser Zeitung. Man habe dem Sicherungsverwahrten ausreichende Angebote gemacht, so Skirl ungewohnt schmallippig.
Deutlicher wird Oberstaatsanwalt Werner Wolff, dessen Arnsberger Behörde umgehend Beschwerde gegen den Beschluss eingelegt hat: Den geforderten Arbeitsplatz habe der Mann nicht bekommen, weil er von einem Arzt arbeitsunfähig geschrieben worden sei. Eine Therapie bei einem externen Psychologen sei „nach etlichen Sitzungen“ abgebrochen worden, weil „eine Bereitschaft nicht feststellbar gewesen“ sei.
Mit einem Anstalts-Psychologen gebe es nun aber regelmäßige Gespräche. Das alles sei der Strafvollstreckungskammer Ende Oktober auch mitgeteilt worden. Wolff: „Man hätte erwarten können, dass dann nachgesteuert wird.“
Die Entscheidung vom 30. Januar ist aus Sicht der Staatsanwaltschaft „anfechtbar“ – nun muss das Oberlandesgericht Hamm urteilen. Bis zum 31. März, wenn die Frist zur Freilassung ausläuft, erwarten die Beteiligten zumindest Anhaltspunkte, wie es weitergeht.
So wird aus einem Einzelfall in Ostwestfalen ein Testfall für die erst im vergangenen Jahr reformierte Sicherungsverwahrung. Denn in Werl wird nun einmal mehr die grundsätzliche Frage aufgeworfen: Wie ist mit Gewalt- und Sexualstraftätern umzugehen, die zum Schutz der Allgemeinheit festgehalten werden, obwohl sie ihre eigentliche Haftstrafe längst abgesessen haben?
Die alte Regelung hatten der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und das Bundesverfassungsgericht 2011 kassiert. Hauptkritikpunkte: Eine Sicherungsverwahrung darf nicht nachträglich verhängt werden, wichtiger noch, Sicherungsverwahrte müssen besser behandelt und therapiert werden als „normale“ Strafgefangene.
Behandlungsmaßnahmen im Zweifelsfall „individuell zugeschnitten“
2013 trat daraufhin ein neues Sicherungsverwahrungs-Gesetz in Kraft. Für den Gefängnisalltag in Nordrhein-Westfalen bedeutet das nun: Die rund 110 Sicherungsverwahrten, die sich zurzeit noch auf die Anstalten in Werl und Aachen aufteilen, sollen ab 2015 in einem neuen Komplex auf dem Gelände der JVA in Werl untergebracht werden.
Die Räume dort haben größer zu sein als normale Zellen und sind „wohnlich zu gestalten“, heißt es. Die Toiletten müssen abgetrennt werden, die Therapie-, Arbeits- und Lebensbedingungen deutlich besser sein als im gewöhnlichen Knast. Das Gesetz verlangt sogar, dass die Behandlungsmaßnahmen im Zweifelsfall „individuell zugeschnitten“ angeboten werden.
Wie streng diese Vorgaben auszulegen sind, wird nun auch am Beispiel des 55-jährigen Sexualstraftäters verhandelt. In Düsseldorf werden die Vorgänge jedenfalls aufmerksam verfolgt. Auch wenn ein Sprecher von Justizminister Thomas Kutschaty (SPD) auf Anfrage erklärte: „Zu einem laufenden Verfahren äußern wir uns grundsätzlich nicht.“