Wurde die Bevölkerung in NRW nicht rechtzeitig genug vor dem Hochwasser gewarnt?
Recherchen unserer Redaktion haben ergeben, dass der NRW-Landesregierung über das Landesamt für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz (LANUV) eine konkrete Vorwarnung vor einem möglichen extremen Hochwasser vorlag.
In einem Lagebericht vom 13. Juli, also einen Tag vor den Überflutungen, wurde sogar ein „50-jähriges Hochwasser“ nicht ausgeschlossen. Wieso wurde nicht frühzeitig gehandelt?
NRW-Landesregierung erhielt vorab alarmierende Warnung – „50-jähriges Hochwasser“
Dem Landesamt wird täglich die sogenannte „Hydrological Guidance“ des Deutschen Wetterdienstes zugesandt, in die auch Daten des EFAS, des europäischen Hochwasser-Warnsystems, einfließen. Diese Daten werden vom LANUV dann für eigene Lageberichte aufbereitet.
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Hochwasser-Katastrophe in Deutschland:
- Schwere Niederschläge verursachten insbesondere zwischen dem 14. bis 16. Juli Hochwasser in NRW und Rheinland-Pfalz.
- Am schlimmsten traf es die Landkreise Ahrweiler und Euskirchen.
- Auch aus Baden-Württemberg, Hessen, Sachsen, Thüringen und dem Saarland wurden lokale Überschwemmungen gemeldet.
- In Bayern gab es am 17. Juli vor allem im Berchtesgadener Land Überflutungen.
- Über 170 Menschen verloren bundesweit ihr Leben.
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LANUV-Pressesprecher Wilhelm Deitermann erklärte auf Anfrage von DER WESTEN: „Bei der Sichtung dieser Daten am Montagmorgen wurde deutlich, dass ungewöhnlich große Niederschlagsmengen im Laufe der Woche zu erwarten sind. (…) Intern haben wir um 10:55 Uhr unseren Hochwasserinformationsdienst aktiviert und das Umweltministerium erstmals über die aktuelle Sachlage informiert.“
Nach dieser erstmaligen Information des Umweltministeriums am Montag verschärften sich die Prognosen weiter. Nach Auskunft der Pressestelle des Landesamtes lag am Dienstag folgende dramatische Warnung vor:
„EFAS zeigt im Zeitraum größer 48 Stunden weiterhin erhöhte Signale für das Überschreiten eines 5-jährigen Hochwassers an mehreren großen Flüssen im Südwesten und Westen Deutschlands (speziell Rhein und Zuflüsse). Oftmals sollen aber auch die Schwellen für ein 10- bis 20-jähriges Hochwasser erreicht werden, wobei anhand der Ensemble-Prognosen vereinzelt selbst ein 50-jähriges Hochwasser nicht komplett auszuschließen ist.“
+++ News-Blog zum Hochwasser in NRW +++
Ein 50-jährliches Hochwasser bezeichnet ein Ereignis, das statistisch einmal in 50 Jahren vorkommt. Also ein sehr seltenes und extremes Hochwasser.
Alarmierende Hochwasser-Warnung an NRW-Landesregierung – warum ist nichts passiert?
Diese alarmierende Vorhersage wurde laut dem Landesamt für Natur und Umwelt auch weitergeleitet: „Adressaten unserer hydrologischen Lageberichte sind die Bezirksregierungen als Vollzugsbehörden des Hochwassermeldedienstes und das NRW-Umweltministerium als Oberste Wasserbehörde.“
Am Dienstag, den 13. Juli, gab es somit bereits Hinweise auf außergewöhnliche Hochwasser-Risiken am Rhein und den Zuflüssen. Sogar ein 50-jähriges Hochwasser wurde durch EFAS nicht ausgeschlossen. Diese Informationen gingen auch an das Haus der Umweltministerin Ursula Heinen-Esser (CDU).
Dagegen behauptete NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) noch nach dem Hochwasser: „Das Wesen von Katastrophen ist, dass sie nicht vorhergesagt werden können. Das Wesen von Naturkatastrophen ist, dass sie erst recht nicht vorhergesagt werden können.“ Man könne nicht aufgrund von Unwetter-Warnungen vorab einschätzen, wie sich die Lage entwickeln werde. Der bekannte Meteorologe Jörg Kachelmann reagierte über Twitter heftig auf diese Aussage: „Lügner.“
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NRW-Landesregierung: Operatives Hochwasser-Risikomanagement lag nicht bei uns
Doch warum hat die Landesregierung nicht gehandelt, wenn eben solche Warnungen vorlagen?
Pressesprecher Christian Fronczak vom NRW-Umweltministerium: „Die hydrologischen Lageberichte werden an die Bezirksregierungen als Vollzugsbehörden des Hochwassermeldedienstes versandt, die ihrerseits die Kreise und Städte informieren. Das Umweltministerium wird hier zwar ebenfalls in Kenntnis gesetzt und durch das LANUV über die laufende Situation informiert, das Ministerium greift aber nicht unmittelbar in operative Entscheidungen ein. Das operative Hochwasser- und Risikomanagement und die damit einhergehenden Schritte obliegen den vor Ort zuständigen Behörden.“
Zusammengefasst: Die Landesregierung sei lediglich informiert worden, aber gar nicht zuständig gewesen, sondern die Bezirksregierungen sowie die Kreise und Städte.
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Eine ähnliche Auskunft erhielten wir vom NRW-Innenministerium auf die Frage nach Evakuierungen. Diese müssten vor Ort eingeleitet und koordiniert werden, hieß es aus Düsseldorf. Zwar könnten Bürgermeister oder Landräte Amtshilfe anfordern, etwa vom Technischen Hilfswerk oder der Bundeswehr, die Entscheidung über eine Evakuierung werde aber nicht zentral gefällt.
Aus diesem Grund seien Evakuierungen von der NRW-Landesregierung vorab auch nicht als eine Option diskutiert worden.
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Armin Laschet war noch am Mittwoch, dem Tag des sich anbahnenden Hochwassers, auf einer Wahlkampftour in Baden-Württemberg. Nun steht der Ministerpräsident für sein Krisenmanagement in der Kritik. Nach einer ersten Umfrage nach der Hochwasser-Katastrophe ist der Kanzlerkandidat der Union aber überraschend sogar der Gewinner der neuen Lage.