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Eine Anlaufstelle für „Flaschenkinder“

Hilfe für „Flaschenkinder“

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Foto: Iris-MEDIEN
Den WR-Bürgerpreis in der Kategorie „Helden des Alltags“ (Gruppe) erhält der Verein „Flaschenkinder“ von Hans Stumm und Kathrin Lange aus Iserlohn.

Iserlohn. 

Es gibt eine Szene, die hat sich in ihr Gedächtnis eingebrannt. Da war Kathrin Lange acht Jahre alt und ihr Vater „mal wieder halbvoll“ – was schlimmer war als „ganz voll“, weil er dann einschlief. „Und dann hab ich nur noch Blut spritzen sehen und meine Mutter rutschte die Wand herunter“, erinnert sich die 41-Jährige heute. So lief sie – wie so oft – zu ihren Nachbarn, die – wie so oft – die Polizei riefen. Gleich zu viert rückten die Beamten an. „Papa war da schon bekannt“, blickt Kathrin Lange zurück. Und als diese ihren Vater in gebückter Haltung mit Handschellen auf dem Rücken abführten, sah er die Tochter an, als er direkt auf Augenhöhe mit ihr war und sagte: „Und du willst behaupten, dass du mich liebst?“

Kathrin Lange sieht diese Szene immer noch vor sich – auch wenn sie lange Jahre versucht hat, diese Zeit zu verdrängen. Die Zeit, als ihr inzwischen verstorbener Vater Alkoholiker war und sie ein Kind. Erst seit wenigen Jahren versucht sie nicht mehr, ihre Erlebnisse zu verdrängen. Im Gegenteil: Aus der Not, die sie damals empfand, hat sie eine Tugend gemacht. Gemeinsam mit Hans Stumm (74), der sich für die Anonymen Alkoholiker engagiert, gründete sie in Iserlohn den Verein „Flaschenkinder“. Sein Ziel: Kinder, deren Eltern an Alkoholismus erkrankt sind, einen Weg zu zeigen, mit der Krankheit besser umgehen zu können.

Denn sie alle eint nicht nur das selbe Schicksal, sondern auch die selben Folgen: Sie erleben selten eine sorglose und glückliche Kindheit, leiden unter Schuldgefühlen, müssen früh Verantwortung übernehmen – und haben als Erwachsene später häufig selbst Alkoholprobleme, Beziehungsschwierigkeiten oder ein Helfersyndrom. „Der Verein Flaschenkinder will Signale setzen, damit diese Kinder nicht länger überhört und übersehen werden können“, sagt Hans Stumm. Denn die Zahl der Betroffenen ist groß, sagt Lange mit Blick auf die Statistik: „Wir haben etwa 2,8 Millionen Alkoholabhängige in Deutschland – wenn man bedenkt, wie viele Kinder die haben, ist das doch ein Thema!“ Allerdings eines, das noch ein Tabu ist – und das alle Beteiligten lieber vergessen wollen. Das stellte Lange selbst fest, als ihr eigener Sohn irgendwann mit einem Nachbarsjungen vor ihr stand und sagte: „Dein Papa war Alkoholiker, und seine Mama ist es auch. Jetzt musst du ihm helfen.“

In dem Moment waren all die Erfahrungen und Erlebnisse aus ihrer Kindheit auf einen Schlag wieder präsent. „Für mich ist da eine Welt zusammengebrochen“, gibt Lange zu. Doch den Schock verwandelte sie in Engagement um: Wochenlang suchte sie nach einer speziellen Beratungsstelle für den Nachbarsjungen. Ohne Erfolg. Da nahm sie Kontakt zu Hans Stumm auf und gründete mit ihm die „Flaschenkinder“ – „aus lauter Wut“, weil es weit und breit keine Anlaufstelle gab.

Auch neun Jahre später hat sich daran nicht viel geändert: Bis aus Berlin reichen die rund 50 E-Mails und Telefonate, die der Verein täglich entgegennimmt. Notfalls auch nachts – dafür ist Hans Stumm am Notruftelefon bis 1.30 Uhr persönlich erreichbar. Manchmal sind es Kinder, die weinend anrufen und sagen: „Meine Mama liegt auf dem Sofa und wird nicht mehr wach“, schildert der 74-Jährige. „Dann haben sie Todesangst.“ Oder die kleinen Anrufer sagen: „Papa hat die Tür eingetreten, und Mama sitzt in der Küche und blutet.“ In solchen Fällen leitet Stumm alle Hilfsmaßnahmen in die Wege und fährt selbst zur Adresse des Anrufers.

Manchmal reicht es auch „nur“ aus, den Kindern zuzuhören. „Wir helfen ihnen schon, wenn wir einfach da sind und ihnen das Gefühl geben, da ist jemand, der mich versteht“, sagt Lange. Wenn die Kinder dann Vertrauen aufgebaut haben, werden sie behutsam weitervermittelt an Experten – etwa vom schulpsychologischen Zentrum.

Hunderte suchen Rat

Mit Hunderten von Kindern hat der Verein bereits Kontakt gehabt, etwa 25 Mädchen und Jungen hat Lange schon persönlich helfen können. Aber wie ist der Erfolg messbar? „Wenn ein Kind sagt, ok, ich hab’s kapiert, ich habe ein Ziel“, sagt Kathrin Lange. „Ob man dahinkommt, das ist eine andere Sache. Aber überhaupt ein Ziel zu haben, ist ein Riesen-Erfolg.“

Denn Flaschenkinder leben anders als andere Kinder. Sie denken nicht an Schule, nicht

an eine Lehrstelle, nicht an ihre Zukunft. „Ich hatte nur das Ziel, von einem Tag auf den nächsten zu kommen“, blickt die Iserlohnerin zurück. „Mit der Frage: Wie viele Rettungswagen, wie viel Polizei, wie viele Erklärungen bei Lehrern wird es heute geben?“

Dass sie darüber inzwischen sprechen kann, hat sie selbst ihrem Verein zu verdanken. „Das war für mich die beste Therapie“, sagt sie. „Und heute bin ich stolz darauf, dass ich diesen Weg geschafft habe.“ Deshalb hofft sie, dass die aktive Unterstützung für die Flaschenkinder noch wächst. Ihr Wunsch für die Zukunft? Da muss Kathrin Lange nicht überlegen: „Ich wünsche mir ganz sehnlich, dass es Leute wie mich gibt, die nicht sagen: Ich buddel meine Erfahrungen ganz tief ein, sondern ich nehme sie und stelle sie jungen Menschen zur Verfügung.“

Die Laudatio im Dortmunder U

Vor einigen Monaten hatte Bernd Homberg, Leserbeirat unserer Zeitung, in der WR von den „Flaschenkindern“ gelesen. Und sofort war für ihn klar: Dieser Verein wollte er für den WR-Bürgerpreis „Helden des Alltags“ vorschlagen. Die Jury war mit ihm und Peter Bochynek aus Iserlohn einer Meinung: So konnte Homberg nun selbst den Vereinsgründern Hans Stumm und Kathrin Thielmann-Lange den Preis überreichen. „Ihr Schicksal hat sie vor zehn Jahren zusammengeführt“, erinnerte er in seiner Laudatio. Das Schicksal und Erfahrungen, die besonderes Verständnis bei ihnen weckten: als Tochter eines alkoholabhängigen Vaters, beziehungsweise selbst als alkoholkranker Mann, der seit nunmehr 30 Jahren trocken ist. Heute organisieren die beiden ein Notruftelefon, das täglich von 8 bis 1.30 Uhr für Kinder erreichbar ist; sie haben ein Internetforum geschaffen, bieten eine Anlaufstelle mit Kleiderkammer für notleidende Menschen und helfen Kindern bei der Unterbringung, wenn in einer Familie Gefahr drohe. „Sie sind die Hoffnung verzweifelter kranker Seelen,“ bilanzierte Homberg. „Sie sind die Rettungsinsel für Kinder in höchster Not. Sie sind die Helden des Alltags.“

Auf Nachfrage des stellvertretenden WR-Chefredakteurs Frank Fligge beschrieb Kathrin Thielmann-Lange, was dies für Mädchen und Jungen seien, die Hilfe bei ihrem Verein suchen: „Es sind Kinder, die Sie jeden Tag auf der Straße sehen. Die niemals zugeben würden, was zu Hause los ist.“ Dann sei „Handeln angesagt.“ Auch dann, wenn Kinder nachts anrufen, so Stumm, und Dinge erzählen wie: „Papa hat die Tür eingetreten und Mama blutet. Dann fahren wir los.“ Und sind solange vor Ort, wie es erforderlich ist. „Manchmal haben die Kinder solche Angst vor den Vätern oder dem Partner ihrer Mutter, dass sie nicht essen können. Dass sie erbrechen müssen“, sagt Stumm. „Dann sind wir da und bleiben da.“

Die anderen Preisträger

Peter Führing

Bettina Landgrafe

Miriam Borrmann und Daniel Link

Birte Braun