Deutschlands einziges Gymnasium mit Tanz-Abi in Essen-Werden
Nirgendwo sonst gibt es das – am Gymnasium Essen-Werden können Schüler den Leistungskurs Tanz wählen. Bis dahin ist es ein weiter Weg. Nur zehn Prozent eines Jahrgangs schaffen es bis ganz nach oben.
Essen.
Ein dunkler Winternachmittag, ein Wetter für das Sofa. Im hellen Ballettsaal des Alten Bahnhofs Essen-Werden greift Pianist Igor Savoskin (51) noch einmal kraftvoll in die Tasten. Walzer, der soundsovielte. Wiederholung, die soundsovielte. Sieben junge Frauen und ein junger Mann bauen sich auf, strecken sich, beugen, gehen auf Fußspitzen, drehen sich, springen, ärgern sich, wenn der Fuß wackelt, der Oberkörper überdreht, aber nur ganz verhalten. Fluchen, das passt nicht in den hohen, verspiegelten Raum mit den weißen Vorhängen an den Fenstern. Heinz Loigge, der Lehrer, korrigiert, besser – berät seinen 12er-Leistungskurs des Gymnasiums Essen-Werden auf dem Weg zum einzige Tanz-Abi, dass in Deutschland gemacht werden kann. Die rund 120 Schülerinnen – und Schüler – der acht Jahrgänge kommen aus ganz Deutschland.
In der ehemaligen Bahnhofshalle sitzen nun Eltern und warten auf ihre Kinder, die sich in den Sälen ringsum in unzähligen Plies und Releves an der Ballettstange üben. An den Wänden hängen Fotos der „Ehemaligen“, die Karriere gemacht haben, in der Ecke steht der unvermeidliche Eimer mit Fundsachen – rosa Schläppchen, einsame Socken, Trinkflaschen.
Eine schmale Treppe hoch geht es ins Lehrerzimmer und zu Heinz Loigge, dem Vorsitzenden des Fachbereichs Tanz. Wer bei ihm im 12er-Kurs gelandet ist, absolviert 21 Wochenstunden Tanz und hat Durchhaltevermögen bewiesen. Nur zehn Prozent derjenigen, die nach der Aufnahmeprüfung aufgenommen werden, schaffen es bis zur Oberstufe.
Loigge war selbst Solist an großen Bühnen, hat „Schwanensee“ getanzt und den „Sommernachtstraum“. Er weiß, wie anstrengend es ist, ein guter Tänzer zu werden und dass bei den meisten etwas dazwischen kommt, die Pubertät, körperliche Veränderungen, andere Interessen. Aber berechenbar ist so etwas nicht – so manch einer sei ein großer Tänzer geworden, obwohl die Voraussetzungen nicht ideal waren, die Proportionen nicht harmonisch, aber „das Feuer hat einfach gebrannt“.
Jonathan Reimann (18) war ein pausbäckiges Kind, als er in die Schule kam. Heute ist er der einzige Mann im 12er-Kurs. Ein Modellathlet mit rotblonder Tolle und herzlichem Lachen. In der fünften und sechsten Klasse, erzählt Jonathan, habe er schon „gewackelt“, als er feststellen, musste, dass nicht gerade viele Kumpels an der Schule seine Tanzleidenschaft teilen. Doch er sei froh, durchgehalten zu haben. Er habe schon als Kind Spaß an Bewegung und Musik gehabt, war in Kindertanzgruppen und wollte mehr. Heute tanzt Reimann bereits mit in der Companie im Aalto Theater mit, gerade jetzt im Ballettklassiker, dem „Nussknacker“ als einer der „Soldaten“.
Im Gegensatz zu Jonathan kommt seine Mitschülerin, Marie van Cauwenbergh (19) aus einer Vollblut-Ballettfamilie. Der Vater und die Mutter waren erfolgreiche Tänzer, heute ist Vater Ben van Cauwdenbergh Ballettdirektor am Aalto und hat den „Nussknacker“ dort selbst auf die Bühne gebracht. So steht Marie Abend für Abend als „Schneeflocke, Ratte und Blumenwecker“ auf der Bühne, als kleines Mädchen hat sie bereits die „Clara“ getanzt. Für Marie kam nie etwas anderes in Frage, als Tänzerin zu werden, und das Werdener Gymnasium bietet die Möglichkeit, mitten drin im Schulbetrieb zu sein und trotzdem an der eigenen Ausbildung zu arbeiten. Morgendliche Tanzstunden sind in ihren Leistungskurs integriert, was den Tanzschülern eine Menge Zeit spart. Trotzdem bleiben Jonathan und Marie nicht gerade viel Zeit für Diskos oder Kneipen, der Freundeskreis besteht aus tanzenden Mitschülern, aber „wenn wir ausgehen, feiern wir genauso ab wie die anderen auch!“
Tanzen als Herausforderung
Tanzen sei „wie eine positive Sucht“, sagt Jonathan. „Ich könnte gar nicht mehr ohne Bewegung sein“, glaubt Marie. Also haben sie auch keinen Plan B, sondern im Moment nur einen Plan A. Abi, weiter ausbilden, dann „gerne in eine Conpanie“, sagt Marie. Jonathan möchte zur Tanzakademie nach Rotterdam, „Technik stabilisieren“, und dann ebenfalls in ein Ensemble, „gerne modern“.
Davon sind Yuna und Leon noch weit entfernt. Gerade in der Sechs, der Erprobungsstufe, wo die meisten Mädchen noch an den Traum in rosa Spitze denken. Aber immerhin – auch in der Klasse von Tanzpädagogin Renate Pomp sind (drei!) Jungs, die gerade beim „chinesischen Tanz“ die auf Spitze trippelnden Mädchen mit mächtigen Sprüngen aufmischen. Leon (12) ist einer von ihnen. Er liebt am Tanzen die „Herausforderung, wenn was kommt, was man noch nicht kann“, sagt er erwachsen Seine Mutter war Tänzerin, da brauchte Leon aus Haan nicht viel Überzeugungskraft, aber die zarte Yuna aus Bochum beispielsweise musste ihre Eltern überzeugen. „Wer tanzt, kann sich besser konzentrieren und ist besser in der Schule“, lautet Yunas Argument. Immerhin sind 80 Prozent der Werdener Tanschüler auch in den anderen Fächern gut bis sehr gut, sagt Herr Loigge.
Auch Yuna und Leon wollen – selbstverständlich – Profitänzer werden. Aber klugerweise haben sie noch eine Plan B in der Hinterhand: Leon könnte sich auch als Architekt vorstellen, Yuna als Autorin. Phantasieromane.