Ansgar Pippel hat jahrzehntelang das Leben eines heterosexuellen Mannes geführt. Er hat eine Familie gegründet, ist mittlerweile Opa. Das späte Coming Out habe ihn befreit, sagt er. Seine Schwester kann das allerdings nicht akzeptieren und hat den Kontakt zum Bruder abgebrochen.
Arnsberg.
Zwischen Kuscheltieren sitzt Ansgar Pippel auf seiner beige-geblümten Wohnzimmercouch in einem Mehrfamilienhaus in Neheim bei Arnsberg. Mit ausladender Geste zeigt er auf den mit Holzkitsch geschmückten Fenstersims und sagt, dass viele seiner Freunde es sich hätten denken können. „Bei mir stimmen einfach ein paar Klischees.“ Ein halbes Leben hat er gezögert, nun kann er endlich ganz er selbst sein. Es ist raus. Vor eineinhalb Jahren hat sich der Ex-Ehemann, zweifache Vater und Großvater als schwul geoutet.
Pippels Esszimmer ist ganz in lila gehalten. An den Wänden hängen ausgefallene Brillenmodelle in Bilderrahmen. „Das ist so ein Sammeltick von mir“, sagt er. Als Tick hat es der 57-jährige Mann jahrzehntelang auch abgetan, dass er sich zu Männern hingezogen fühlt. Und es ignoriert, verdrängt, unterdrückt. Aufgewachsen in einer 4000-Seelen-Gemeinde bei Winterberg war für den gelernten Restaurantfachmann der Lebensweg vorgegeben. „Man macht die Schule fertig, fängt an zu arbeiten, heiratet und bekommt Kinder. Alles andere wäre nicht gegangen.“ Zumindest dachte Pippel das zunächst.
Keine homosexuellen Vorbilder im ländlichen Raum
„Im ländlichen Raum fehlen die homosexuellen Vorbilder, es gibt keine Szene“, sagt Ilka Borchardt. Sie leitet beim Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD) das Projekt „Homosexualität und Familie“.
Späte Coming-outs sind ihr Thema. Größere Städte, so erklärt die Geschlechterforscherin, böten mehr Anonymität. Wer etwas verstecken will, kann das besser im Ruhrgebiet oder in Köln tun als in einem Dorf, wo die Nachbarn schon komisch gucken, wenn man zehn Minuten später als üblich von der Arbeit kommt.
Portraits der Kinder und Enkel
Ansgar Pippel wollte keine Blicke auf sich ziehen. Schon als Jugendlicher weiß er, dass er auf Männer steht, trotzdem erlebt er den ersten Kuss mit einer Frau, die erste lange Beziehung auch. „Das hat sich nicht vollkommen falsch angefühlt“, sagt er. Doch immer fehlte etwas.
Der Arnsberger backt gerade einen Kuchen. Mit Plüschpuschen an den Füßen steht er in der Küche, blickt prüfend in den Ofen und redet dabei schneller als er es normalerweise tun würde. Wenn er nicht vom Schwulsein erzählen würde. Das Wort macht den schmächtigen Mann mit dem Schnauzbart immer noch nervös. Er meidet es unbewusst, sagt „so, wie ich nun mal bin“ statt „schwul“.
Von der Küche zieht Duft von warmer Schokolade ins Wohnzimmer, wo auf dem Tischchen Portraits der Kinder und Enkel thronen. Sie zeigen, was Pippel am wichtigsten ist: „Ich wollte immer eine Familie haben.“
Die Ehe ging in die Brüche – die Fassade hielt er aufrecht
Mit 21 lernt er eine Frau kennen, ein Jahr später heiraten sie, nach drei Jahren kommt ihre Tochter zur Welt, als sie fünf ist, der Sohn. Ob er seine Frau jemals wirklich geliebt hat? Pippel blickt lange aus dem Fenster, bevor er antwortet. „Ich will sie nicht im Nachhinein noch verletzen.“
Die Ehe ging in die Brüche, die heterosexuelle Fassade hielt der Neheimer aufrecht. Zwölf Jahre lang ist er mit einer neuen Partnerin zusammen. Sie und seine Kinder ahnen nichts von Pippels wahren Gefühlen.
„Ein Outing zu so einem Zeitpunkt ist wie ein Bruch. Die Homosexuellen fürchten den Verlust“, sagt LSVD-Geschlechterforscherin Ilka Borchardt. Das Coming-out würde alles in Frage stellen: Freundschaften, das Verhältnis zu den Kindern, die Position am Arbeitsplatz. Wie viele Homosexuelle in Deutschland in heterosexuellen Beziehungen leben, lasse sich naturgemäß nicht erheben, erklärt sie.
„Die Dunkelziffer ist riesig“, glaubt Ansgar Pippel. Er habe irgendwann angefangen, sich heimlich mit Männern zu treffen, viele von ihnen hätten mit Frauen zusammengelebt, erzählt er. Über Annoncen und Stammtische lernt Pippel Männer kennen. Kurze Affären, nichts Ernstes. Erst als ihm Markus bei der Arbeit begegnet, ändert sich alles. „Das war Liebe auf den ersten Blick“, sagt der Arnsberger. Mit seinen 57 Jahren wird er dabei so rot wie ein schüchterner Teenager.
Die schönsten Wochen des Lebens
Mit dem neuen Partner erlebt er all das, was er sich zuvor verboten hatte: Vertrautheit, Nähe, Verlangen, Ehrlichkeit. Die beiden machen zusammen Urlaub in Bulgarien. Zum ersten Mal zeigt Pippel offen, dass er mit einem Mann zusammen ist. „Das waren die schönsten Wochen meines Lebens“, sagt er. Das Gefühl sollte nach dem Rückflug nicht wieder vorbei sein.
„Wenn man sich so sehr verliebt, dass man es einfach nicht mehr aushalten kann und zu dieser Liebe stehen will – das ist bei vielen späten Coming Outs der Auslöser“, berichtet Ilka Borchardt. Ansgar Pippel hat klar Schiff gemacht, es seinen Kindern erzählt, seiner Ex-Frau und den Arbeitskollegen. Nur zwei von ihnen hätten hinter seinem Rücken „schwule Sau“ gelästert, sagt Pippel.
Zu einer Schwester hat der Arnsberger seit seinem Outing keinen Kontakt. Mehr will er dazu nicht erzählen. Das Kapitel sei abgeschlossen für ihn.
Die Kinder reagierten überrascht, aber erleichtert, behauptet Pippel. „Hauptsache, du bist jetzt endlich glücklich, Papa“, hätten sie gesagt. Weihnachten haben sie alle zusammen gefeiert: Ansgar Pippel, sein Partner, seine Ex-Frau, die Kinder und die Enkel. Ganz normal sei das gewesen, sagt er. „Weil es endlich ehrlich war.“