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Wie sich eine deutsch-polnische Familie im Ruhrgebiet fühlt

Wie sich eine deutsch-polnische Familie im Ruhrgebiet fühlt

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Foto: Funke Foto Services
Im Lebenslauf der Berendts spiegelt sich viel Geschichte der Nachbarvölker. Einst lebten eine halbe Million Polen im Ruhrgebiet, heute sind es wieder 170.000 in NRW.

Essen. 

Das ist sie also, die polnische Wirtschaft im Ruhrgebiet. Von den weißen Bodenfliesen könnte bedenkenlos gegessen werden, was Hausherrin Wiola aber niemals zulassen würde, dem Gartenstück fehlt nur ein Zwerg zur treudeutschen Idylle. Hier in Gelsenkirchen-Horst unweit der Schalke Arena lebt die Familie Berendt, in deren Lebenslauf sich viel gemeinsamer Geschichte der beiden Nachbarvölker widerspiegelt.


Als das Ruhrgebiet in der Kaiserzeit nach Berg- und Stahlarbeitern rief, da kamen sie zu Hunderttausenden aus dem Osten des Reiches. Neben Schlesiern und Masuren, Pommern und Ostpreußen auch viele Polen, die zu dieser Zeit bereits seit Generationen nach der Aufteilung Polens 1795 kein eigenes Heimatland mehr hatten. Eine halbe Million waren es beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914.

Marius Berendt wurde 1963 in Gubin geboren. Die Oder-Neiße-Grenze teilt seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Stadt, im deutschen Westen heißt sie weiter Guben. Marius’ schlesische Großmutter floh nach ‘45 nicht wie andere Familienmitglieder in den Westen. Sie wollte warten, bis die Polen wieder aus ihrer Heimat verschwunden wären.

Doch die Geschichte wurde bekanntlich anders geschrieben. Als am Anfang vom Ende des osteuropäischen Kommunismus in Polen das Kriegsrecht herrschte, konnte Marius’ Mutter plötzlich nicht mehr vom Verwandtenbesuch in Gelsenkirchen zurück. Sie blieb, und in der Folge kam Marius 1986 als deutschstämmiger Spätaussiedler ohne Asylverfahren nach Gelsenkirchen. „Ich war in Polen kein Ausländer“, sagt der 52-Jährige mit den stets schalkhaft blitzenden Augen rückblickend, „ich fühlte mich immer als Pole.“


Nach dem Ersten Weltkrieg entstand die polnische Nation wieder, und rund ein Drittel der Polen kehrte dem Ruhrgebiet den Rücken. Genauso viele wie in die neue alte Heimat im Osten ziehen Anfang der Zwanziger Jahre weiter Richtung Westen in die nun besser gestellten Kohlereviere von Belgien und Frankreich.

Den polnischen Akzent wird, Marius, der Spätaussiedler, immer behalten. Seine Frau Wiola (49) behält ihren polnischen Pass, obwohl sie sagt: „Für mich spielt Staatsangehörigkeit keine Rolle. Ich bin mehr Deutsche und lebe in Deutschland länger als in Polen.“ Die Studenten-Kinder Janine (25) und Martin (22) könnten zusätzlich zum deutschen einen polnischen „Paszport“ beantragen – haben sie aber nicht. „Ich kann es mir vorstellen“, sagt die Tochter, die aus Interesse an der Sprache und der Kultur der Eltern Polnisch gelernt hat.


Die vor 1914 zugewanderten Polen blieben unter sich und litten unter vielen Vorurteilen, die auf ihre angebliche Leichtlebigkeit und Unsauberkeit abzielten. Gerade während der Nazi-Zeit gaben sich manche Revier-Zuwanderer Mühe, nicht als Polen gesehen zu werden. Namen wurden eingedeutscht, in der Familie des Autors wurde aus Bojanowski Beermann. Auch bei den Schalker Dauermeistern um Szepan und Kuzorra wurden eifrig die nicht-polnischen Wurzeln betont, im Nachhinein ein peinlicher Vorgang. Die Nazis verboten alles Polnische, vor allem ihre nach Tausenden zählenden Vereine.

„Schalke ist eine Panne-Mannschaft“, urteilte (allerdings vor Saisonbeginn) der gelernte Elektroniker Marius über die aktuell Polen-freie Truppe. Regelmäßig fährt die Familie zu Verwandtenbesuchen über die Neiße.

Noch ein Integrationstipp aus Gelsenkirchen-Horst, bitte. Marius: „Nummer eins ist die Sprache.“ Janine: „Ich finde es wichtig, sich anzupassen.“

Nach dem Krieg zählte der „Spiegel“ noch 50 000 Volkspolen im Ruhrgebiet. Erst im deutschen Wirtschaftswunder wanderten wieder Polen ein. Sie konzentrieren sich nicht wie früher um Zechen und Stahlwerke. 170 000 verteilen sich inzwischen wieder in NRW.

Zum Schluss der Lackmustest Fußball für Marius: Wenn die Nationen aufeinandertreffen wie jetzt in der EM-Qualifikation oder beim legendären WM-Spiel ‘06 in Dortmund (der 1:0-Siegtreffer durch Odonkor ließ Polen ausscheiden), „dann bin ich für Unentschieden“.