Viele feiern ihn als Vater des Wirtschaftswunders. Und seine Skandale sind ihnen egal. Seine Partei konnte gegenüber der Kommunalwahl von 2009 sogar um fast sieben Prozentpunkte zulegen. Doch warum stehen die Türken so hinter Recep Tayyip Erdogan? Eine Analyse.
Ankara.
Recep Tayyip Erdogan hat hoch gepokert. Der türkische Premier erklärte die Kommunalwahl zu einer Abstimmung über seine politische Zukunft: Wenn meine Partei verliert, ziehe ich mich aus der Politik zurück, lautete die Ankündigung. Ein hoher Einsatz angesichts der Kontroversen, die ihn umgeben. Aber Erdogan hat das Spiel gewonnen. Es gab nicht mal einen Dämpfer. Seine Partei konnte gegenüber der Kommunalwahl von 2009 sogar um fast sieben Prozentpunkte zulegen.
Man reibt sich die Augen. Rollte nicht noch im letzten Sommer eine gewaltige Protestwelle über die Türkei hinweg? Beteiligten sich nicht mehr als 2,5 Millionen Menschen an den vor allem gegen Erdogan persönlich gerichteten Demonstrationen, die 79 der 81 türkischen Provinzen erreichten? Aber dieser Proteststurm ist verpufft. Eine politische Bewegung ist daraus nicht geworden.
Auch die Korruptionsvorwürfe, die bis in die Familie des Premiers hineinreichen, haben Erdogan offensichtlich nicht geschadet. Die Erklärung dafür ist einfach. Erdogans Stammwähler, die frommen, konservativen Anatolier und die anatolischen Zuwanderer in den Großstädten, halten die Enthüllungen entweder für erfunden oder tun sie mit einem Schulterzucken ab. Schließlich geht es bei den angeblichen Schmiergeld-Millionen nicht um ihr Geld. Auf Twitter und Youtube, die von Erdogan gesperrten Internetdienste, können sie ohnehin verzichten. Sie sehen in Erdogan den Vater des türkischen Wirtschaftswunders.
Kostenlos Kohle an Arme verteilt
In seinen elf Regierungsjahren hat sich die Kaufkraft der türkischen Durchschnittsfamilie verdoppelt. Nicht alle Türken sind reich geworden, auch Erdogan hat das beträchtliche Wohlstandsgefälle im Land nicht ausgleichen können. Aber gerade die Armen erinnern sich dankbar daran, dass die Regierungspartei im vergangenen Winter in vielen Dörfern und Städten kostenlos Kohle verteilen ließ, damit niemand frieren sollte.
Das erklärt diesen Wahlsieg, macht seine voraussehbaren Folgen aber nicht weniger problematisch. Erdogan wird ihn als politische Absolution von den Korruptionsvorwürfen interpretieren. Die strafrechtlichen Ermittlungen hat er ohnehin mit den Säuberungen bei Polizei und Justiz bereits erstickt. Erdogan könnte seinen Triumph als Auftrag interpretieren, nun noch gnadenloser gegen seine politischen Gegner vorzugehen. Bereits in der Wahlnacht drohte er seinen Widersachern, allen voran dem gemäßigten islamischen Reform-Prediger Fetullah Gülen und dessen Anhängern: Nun sei die Zeit gekommen, sie „auszumerzen“.
Spalten statt versöhnen – das scheint Erdogans Motto zu bleiben. Die Aussicht, dass dieser Mann als nächstes wohl für das Amt des Staatspräsidenten kandidieren wird, ist unbehaglich. Die Istanbuler Börse reagierte zwar mit steigenden Kursen, die Anleger setzen auf Kontinuität. Aber Kontinuität ist kein Wert an sich, wenn damit die Einschränkung von Grundrechten und die Demontage der Gewaltenteilung einhergehen, wie in der „neuen Türkei“, die Erdogan noch am Wahlabend stolz ausrief. Eine zerrissene Gesellschaft kann auf Dauer wirtschaftlich nicht erfolgreich sein.
Europa ist nun gefordert
Auch die EU ist gefordert. Sie hat das Votum der türkischen Wähler zwar zu achten. Brüssel kann aber angesichts der Polarisierung, die Erdogan betreibt, nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Als Beitrittskandidat hat sich die Türkei verpflichtet, die demokratischen Grundrechte zu wahren. Dagegen hat Erdogan mit der Entmündigung der Justiz, der Einschüchterung kritischer Medien und den Internetsperren bereits verstoßen.
Bisher konnte man argumentieren, die EU müsse den Dialog mit Ankara fortführen, um den Reform-Prozess in der Türkei am Leben zu erhalten. Aber wenn sich Erdogan weiterhin über europäische Rechtsnormen hinwegsetzt, sticht dieses Argument nicht mehr. Bleibt Erdogan bei seinem Kurs, muss ihm die EU die rote Karte zeigen – und die Beitrittsverhandlungen aussetzen.