Den folgenden Text müssen Sie nicht lesen, andere Leute haben über das Thema bestimmt viel interessanter geschrieben. Es ist ein Text über Selbstzweifel. Der von einer viel fähigeren Person handelt als mir: Meiner Freundin X., die sich gerade selbständig macht. Sie hat als Grafikerin ein Super-Diplom in Düsseldorf hingelegt, sie hat gute Jobs im Marketing großer Verlage gehabt, aber kurz vor ihrem 50. Geburtstag wollte sie ihr eigener Chef werden. Noch bevor das Arbeitszimmer fertig gestrichen war, klingelten erste Kunden an, weil sich herumgesprochen hat, was die Frau kann.
Ich verrate Ihnen, was die Frau nicht kann: Sich feiern. Sie gestaltet die schönsten Anzeigen, Plakate, Logos und Web-Seiten. Wer meine Freundin X. bittet, seine Firma zu vermarkten, glaubt hinterher, dass er so klasse ist wie ihre Anzeige. Nur sich mag X. nicht verkaufen. Wenn sie als Pfau geboren wäre, würde sie ihre Federn unter einem Tuch tragen. Eigentlich müsste sie von der Gewerkschaft der Berufs-Großartigen geächtet werden. Heute kann doch jeder alles. Jeder Knallkopp ist Kult, weil er sich im Internet wieder und wieder der Welt aufdrängt. Ach, wenn Google gähnen könnte…
Meine Freundin X. hadert mit ihrem Internet-Auftritt, am liebsten bliebe sie HINTER dem Bildschirm, geduckt. Dabei sieht ihre Web-Seite so aus, wie es sich für eine richtig gute Grafikerin gehört, schickes Logo, wunderbare Farben. Aber die Rubrik „Über mich“ umfasst nur fünf dürre Sätze, weil X. für sich nicht so viele Pixel in Anspruch nehmen will. Am liebsten hätte sie die Schrift klitzeklein gestaltet und Buchstaben animiert, die weglaufen, wenn man sie ansieht. Ich weiß, dass ihr das Pseudonym „X“ hier schon wieder zu vollmundig ist. „Sag den Leuten, dass gut du bist!“
„Sowas ist peinlich“, meint X.
„Aber alle machen das!“
„Deswegen ist es ja so peinlich!“
Wenn sie bloß zugäbe, dass sie was KANN. Hat sie nicht das Corporate Design für einen großen Verlag gestaltet? Das sei ihr Job, sagt X.. Eine Krankenschwester zeige auch nicht überall Fotos von den mega-coolen Verbänden, die sie angelegt hat. Wir waren uns einig, dass wir die Krankenschwester mögen. Ist es nicht toll, wenn heute mal jemand kein Star ist?
Dieter Bohlen käme nie auf die Idee, sein Erfolg beruhe auf der Doofheit seiner Fans, obwohl das ja sogar stimmt. François Sarkozy glaubt immer noch, die Franzosen haben sich verwählt, das Volk müsste ausgetauscht werden. Ist Marketing männlich?
Wir hatten die Vision von einem weiblichen Marketing, das Selbstzweifel kultiviert: „Ich würde schreiben, dass ich nix Besonderes kann, was komischerweise seit 20 Jahren keiner merkt“, spinnt X. glücklich. Genau, und meine Leser ahnen nicht, dass ich nie was anderes mache, als immer gleiche Buchstaben neu zu kombinieren, bestätige ich.
Wahrscheinlich wird X. mit ihrer Anti-Eigenwerbung nicht reich, aber sie hat, was sie verdient: Freunde, die wissen, dass sie die Allerbeste ist und sie jetzt ganz doll feiern. Herzlichen Glückwunsch zum 50!
Selbstkritisches Marketing, unbezahlbar