Auch nach der Verabschiedung im Bundestag geht der Streit um das Tarifeinheitsgesetz weiter. Für die Gewerkschaften bedeutet es einen Einschnitt.
Berlin.
Glaubt man Andrea Nahles, dann zeigt die aktuelle Streikpause bei der Bahn die segensreichen Wirkungen ihres noch gar nicht in Kraft getretenen Gesetzes. Dass sich die Lokführergewerkschaft GDL und die Bahn auf eine Schlichtung verständigt hätten, sei exakt im Sinn des Tarifeinheitsgesetzes. „Wir setzen auf Kooperation und Einigung“, sagte die Arbeitsministerin gestern im Bundestag.
Unsinn, konterte die Opposition: Die Koalition trage mit ihrem Vorhaben Mitverantwortung für die Serie von neun Bahnstreiks, schimpfte Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter. „Sie verschärfen mit dem verfassungswidrigen Gesetz Tarifkonflikte“, rief er und schickte eine böse Frage hinterher: „Schämen Sie sich nicht?“
Das Tarifeinheitsgesetz ist höchst umstritten – selbst in der Koalition versagten 28 Abgeordnete vorwiegend aus der Unionsfraktion die Zustimmung, klären muss den Streit das Verfassungsgericht.
Worum geht es bei dem Gesetz?
Es beschränkt die Macht kleiner Spartengewerkschaften wie der GDL, der Pilotenvereinigung Cockpit oder der Ärztegewerkschaft Marburger Bund. Wenn zwei Gewerkschaften in einem Betrieb dieselben Arbeitnehmergruppen vertreten und sich nicht verständigen können, gilt künftig der Tarifvertrag der Organisation, die in dem Betrieb die meisten Mitglieder hat.
Das hat Folgen für das Streikrecht: Hat die kleinere Gewerkschaft keine Aussicht, per Streik einen Tarifvertrag zu erzwingen, dürften Gerichte künftig solche Streiks als unverhältnismäßig verbieten – das ist der eigentliche Hebel, auf den das Gesetz zielt.
Was bedeutet das für die Bahn?
Wenn das Gesetz Anfang Juli in Kraft tritt, kann die GDL zwar weiter Tarifverträge für Lokführer auch mit Streiks durchsetzen. Doch im aktuellen Konflikt hat sie versucht, der größeren Eisenbahnergewerkschaft EVG auch die Zuständigkeit für Zugbegleiter und anderes fahrendes Personal streitig zu machen – solche Streiks würde von Arbeitsgerichten untersagt. Die GDL ist daher unter Druck, einen Tarifvertrag abzuschließen, bevor das Gesetz in Kraft ist.
Und andere Gewerkschaften?
Betroffen sind alle Spartengewerkschaften, die nur einzelne Berufsgruppen vertreten. Deshalb protestieren auch der Marburger Bund, Cockpit, der Beamtenbund oder der Deutsche Journalisten-Verband. Aber: Die neuen Regelungen greifen nur, wenn sich die Gewerkschaften Machtkämpfe liefern. Das tun sie aber meist nicht.
Der Streit ist erst ausgebrochen, als GDL und Marburger Bund vor einigen Jahren nicht mehr zusammen mit den großen Branchengewerkschaften verhandeln wollten. Darauf korrigierte das Bundesarbeitsgericht 2010 seine Rechtsprechung, rückte von dem Grundsatz der Tarifeinheit ab und eröffnete den Spartengewerkschaften Spielraum, selbst Tarifpolitik zu machen. Uneins sind nun die Großen: Verdi-Chef Frank Bsirske warnte gestern, die Konkurrenz der Organisationen werde deutlich zunehmen, wenn nun in jedem Betrieb ermittelt werden müsse, wer die Mehrheit der Beschäftigten hinter sich habe.
Warum, ist die Kritik so heftig?
Die kleinen Gewerkschaften sehen ihr Streikrecht bedroht – und damit die schärfste Waffe, die ihnen zur Verfügung steht. So werde auch das Grundrecht auf Koalitionsfreiheit infrage gestellt. Das beklagten auch Redner der Opposition im Bundestag. Mehrere kleine Gewerkschaften haben schon Verfassungsklage angekündigt. Aussichtslos ist das nicht, das Gesetz ist auch unter Verfassungsrechtlern umstritten.
Was antwortet die Koalition?
Arbeitsministerin Nahles bestritt vehement, das Koalitionsfreiheit und Streikrecht angetastet würden. Es drohe keineswegs das Ende kleiner Gewerkschaften und Berufsverbände, doch kollektives Handeln werde ad absurdum geführt, wenn nur für einzelne Gruppen gekämpft werde, sagte die Ministerin. Es gehe darum, zum Grundsatz „Ein Betrieb, ein Tarifvertrag“ zurückzukehren. Doch nicht alle in der Koalition tragen das Ziel mit: 24 Abgeordnete der Union und vier der SPD versagten ihre Zustimmung.