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Warum es für die Schuld von Ausschwitz kein Ende geben kann

Warum es für die Schuld von Ausschwitz kein Ende geben kann

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Foto: dpa
Die Aufarbeitung der NS-Zeit kam nach dem 8. Mai 1945 nur langsam voran. Heute ist in der Politik die Erinnerung an Krieg und Nazi-Gräuel Staatsraison

Essen. 

Es war eine Rede mit politischem Zündstoff. Der Mann am Pult forderte ein Ende der „Dauerpräsentation“ der nationalsozialistischen Vergangenheit in Deutschland. Er kritisierte die „Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken“ und geißelte die „Meinungssoldaten mit vorgehaltener Moralkeule“. Der Redner war der Schriftsteller Martin Walser und für seinen wortgewaltigen Vortrag anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels erhielt er 1998 in der Frankfurter Paulskirche von den Anwesenden stehend Ovationen. Nur einer wollte sich dem Beifall nicht anschließen: Ignatz Bubis, damals Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland, blieb demonstrativ sitzen und rührte keine Hand. Später warf er Walser „geistige Brandstiftung“ vor

Die Deutschen können ihrer Vergangenheit nicht entkommen

Walsers Rede und die Reaktionen setzten eine heftige Kontroverse in Gang, an der sich Politiker, Historiker und Literaten beteiligten und die heute als „Schlussstrich-Debatte“ bezeichnet wird. Die Kernfrage der Auseinandersetzungen lautete: Ist es mehr als ein halbes Jahrhundert nach Ende von Hitler-Deutschland an der Zeit, einen Schlussstrich zu ziehen unter die NS-Vergangenheit – oder bleibt die Beschäftigung der Deutschen mit Kriegsschuld und Judenvernichtung eine fortwährende Aufgabe?

Heute ist sicher: Die Deutschen können ihrer Vergangenheit nicht entkommen. Auch 70 Jahre nach Kriegsende muss sich die Tagespolitik regelmäßig auf die eine oder andere Weise mit Auswirkungen von Krieg und Nazi-Herrschaft befassen. Das zeigen vier Beispiele aus der jüngeren Zeit.

Wo die Vergangenheit präsent ist

Die griechische Regierung fordert von Deutschland 278 Milliarden Euro an Reparationen. Es geht dabei um Entschädigungen für Opfer der deutschen Besatzung während des Weltkriegs und um Schadenersatz für die von den Besatzern damals zerstörte Infrastruktur.

Die zentrale NS-Fahndungsstelle in Ludwigsburg führt aktuell Vorermittlungen in zwölf Fällen gegen mutmaßliche ehemalige Aufseher in den Konzentrationslagern Majdanek und Auschwitz. Auch die Akte Buchenwald wollen sich die Ermittler noch einmal ansehen.

Der Fall Cornelius Gurlitt, in dessen Münchner Wohnung die Staatsanwaltschaft mehr als tausend Kunstwerke beschlagnahmte, entfacht eine neue Debatte über den Umgang mit Raubkunst. Experten halten es für möglich, dass noch Tausende von Nazis geraubte Kunstwerke im Umlauf sind.

Nach dem Krieg war die Rückschau aufs „Dritte Reich“ nur für wenige ein Thema

In der Nähe der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg werden Wegweiser und Ortsschilder mit Hakenkreuzen und anderen Nazi-Symbolen verschandelt. Auf einen Zaun sprühten die Täter antisemitische Parolen.

Doch wie steht es um die Aufarbeitung der Jahre zwischen 1933 und 1945?

Der Wunsch nach einem Schlussstrich ist nicht neu. Gleich nach dem Krieg – die Überlebenden waren mit Wiederaufbau und später mit dem Wirtschaftswunder beschäftigt – war die Rückschau aufs „Dritte Reich“ nur für eine Minderheit ein Thema. Alt-Nazis bevölkerten Amtsstuben, Behörden und Geheimdienste, fanden sogar Zugang zu hohen politischen Ämtern, wie etwa Hans Globke, einst Mitverfasser der Nürnberger Rassegesetze, später unter Konrad Adenauer Chef des Bundeskanzleramtes. Ohne die Ex-Nationalsozialisten, so die gängige Meinung, gehe es ja nun mal nicht in der neuen Bundesrepublik. Und was nütze schon das Nachkarten? Man schob sich eigene Vergangenheit zurecht, bis es passte.

Bezeichnend dafür ist, dass die Auschwitz-Prozesse ab 1963 nur deshalb stattfinden konnten, weil zwei unerschrockene Juristen gegen massiven Widerstand in Justiz und Politik die Ermittlungen vorantrieben. Die Prozesse gegen ehemalige SS-Offiziere, brutale KZ-Aufseher und menschenverachtende NS-Ärzte führte erstmals einer breiten Öffentlichkeit die Tötungsmaschinerie wieder vor Augen. Trotzdem sollte es bis Ende der 90er-Jahre dauern, bis ausgerechnet eine Hollywood-Serie, der TV-Vierteiler „Holocaust“, den Deutschen die Singularität des Völkermords an den Juden klarmachte. Es war beschämend und bezeichnend zugleich, dass kein deutscher Filmemacher zu dieser Leistung fähig war.

„Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz“

Es dauerte danach immer noch einige Jahre, bis 1985 der damalige Bundespräsident und ehemalige Wehrmachtsoffizier Richard von Weizsäcker mit seiner großen Rede zum 8. Mai als „Tag der Befreiung“ Deutschlands Klartext sprach. Von Kollektivschuld sprach er nicht, aber die Mehrheit der Deutschen war für Weizsäcker mitverantwortlich für die Verbrechen Nazi-Deutschlands – nicht nur Hitler oder seine Schergen. Auch die alte Schutzbehauptung, man habe ja vom Holocaust nichts gewusst, wies Weizsäcker zurück: „Wer seine Ohren und Augen aufmachte, wer sich informieren wollte, dem konnte nicht entgehen, dass Deportationszüge rollten.“ Weizsäckers Rede hat den Blick der Deutschen auf die NS-Zeit geschärft, ja neu justiert.

Und heute? Das Bild ist gespalten. „Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz“, sagte Bundespräsident Joachim Gauck im Januar zum 70. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers, dessen Name wie kein anderer für die Barbarei der Nazis steht. Gauck weiter: „Für die schreckliche Vergangenheit unseres Landes sind die Nachgeborenen nicht verantwortlich. Für den Umgang damit hingegen schon.“ Die moralische Aufarbeitung der NS-Verbrechen ende nie. Diese Erkenntnis ist heute Mainstream im politischen Deutschland. In der Bevölkerung dagegen sieht es laut Umfragen anders aus.

„Die Schande muss man ertragen“

So zeigte gerade erst eine repräsentative Umfrage der Bertelsmann-Stiftung, dass 81 Prozent der Deutschen gern die Geschichte der Judenverfolgung „hinter sich lassen“ würden. Und immerhin 58 Prozent der Befragten wollen lieber einen regelrechten Schlussstrich unter das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte ziehen.

Und Walser? Der Provokateur von damals hat eingelenkt. So sagte er kürzlich im Hessischen Rundfunk: „Auschwitz bleibt – das ist mir immer klarer geworden – eine deutsche Schande. Da kann man nichts dagegen machen. Die muss man ertragen.“