An diesem Mittwoch vor 80 Jahren wurde Adolf Hitler als Reichskanzler gewählt. Ein Gespräch mit dem Historiker Hans Mommsen über den Weg der Nazis an die Macht, über die Ahnungen der Deutschen und über eine Volksgemeinschaft, die keine war.
Essen.
An diesem Mittwoch jährt sich zum 80. Mal der Tag, an dem Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt wurde. Wie konnte es dazu kommen? Der langjährige Bochumer Lehrstuhlinhaber Hans Mommsen (82), Experte für die Geschichte der Weimarer Republik und des NS-Systems, beantwortete unsere Fragen.
Professor Mommsen, vor 80 Jahren kam Hitler an die Macht. Nur drei Monate zuvor hatte es noch so ausgesehen, als wäre er gescheitert.
Hans Mommsen: Die NSDAP war 1932 regelrecht in der Krise. Im November verlor sie 14,6 Prozent ihrer Stimmen bei der Reichstagswahl, und in den folgenden Regionalwahlen fast 40 Prozent ihrer Stimmen. Reichspräsident von Hindenburg weigerte sich beharrlich, Hitler zum Kanzler zu ernennen. Die SA war nicht bereit, sich in weiteren Wahlkämpfen zu engagieren. Offene Neuwahlen hätte die NSDAP mit weiteren Verlusten erkauft, die den von ihr beanspruchten Nimbus der Unbesiegbarkeit zerstört hätten.
Und doch wird Hitler im Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt. Was ist da passiert?
Hans Mommsen: Es gab eine massive Manipulation des Ex-Kanzlers von Papen und der konservativen Kamarilla um Hindenburg, die den Reichspräsidenten überredeten. Ohne sie wären die Nationalsozialisten nicht an die Macht gekommen.
Im Gegensatz zu uns heute wussten die Zeitgenossen noch nichts vom Krieg und von Auschwitz. Wie nahmen sie das Ereignis wahr?
Hans Mommsen: Zunächst einmal haben sie geglaubt, das Kabinett Hitler wäre nicht stabiler als all die anderen Kabinette zuvor. Das Ermächtigungsgesetz hat die Stabilität dann zwar erhöht – aber für niemanden war damals vorstellbar, dass eine Regierung zwölf Jahre an der Macht bleiben würde.
Wie viel von dem, was dann kam, hätten die Deutschen ahnen müssen?
Hans Mommsen: Der extreme Antisemitismus der NSDAP war offensichtlich. Aber dass er zum Holocaust führen würde, war in der Tat nicht absehbar. Man hat zwar erwartet, dass die Nazis eine autoritäre Herrschaft errichten würden – aber ihre Gewaltbereitschaft hat man unterschätzt.
Warum ging Weimar erst so spät unter?
Eine autoritäre Herrschaft wäre ja auch schon ein Grund sich zu wehren.
Hans Mommsen: Sie war aber bei Weitem kein Einzelfall. Die meisten der Nachfolgestaaten in Europa hatten schon zuvor den Weg zu autoritären Verfassungen eingeschlagen, etwa in Italien oder Polen. Wenn man international vergleicht, wird man sich nicht fragen, warum die Weimarer Republik untergegangen ist, sondern warum erst so spät.
An der Manipulation, die Hitler an die Macht brachte, waren Industrielle maßgeblich beteiligt. Fritz Thyssen etwa stand hinter der NSDAP.
Hans Mommsen: Aber das galt nicht für die gesamte Schwerindustrie. Den meisten Unternehmern, die sich im „Bund zur Erneuerung des Reiches“ organisiert hatten, ging es nicht um Hitler. Sondern darum, das parlamentarische System zu beseitigen und mit ihm den „Gewerkschaftsstaat“, wie sie es nannten. Sie wollten niedrigere Löhne durchsetzen. Das war der Hintergrund, vor dem sich die Regierungskrise des Jahres 1932 abspielte.
Es ist kein Rätsel, es lässt sich alles erklären
Der Untergang der Weimarer Republik und der Aufstieg Hitlers hat Sie ein Leben lang beschäftigt. Aus Ihrer Erfahrung: Kann man diese Katastrophe begreifen? Oder bleibt sie am Ende ein Rätsel?
Hans Mommsen: Nein, es ist kein Rätsel. Es lässt sich sehr gut zeigen, wie die Wählerbewegungen waren, und wie die einzelnen Gruppen agiert haben. Was man aber nicht vorhersehen konnte, das war die spätere Selbstentfesselung der NSDAP als rassistische Partei.
Was bleibt für die Wissenschaft zu tun?
Hans Mommsen: Ich erwarte keine grundlegende Änderung des bestehenden Geschichtsbildes mehr. Man untersucht jetzt das Verhalten einzelner Bevölkerungsgruppen, dazu kommen viele regionale Studien.
Die „Volksgemeinschaft“, eine Erfindung der NS-Propaganda
Und die großen Fragen?
Hans Mommsen:
Neueste Tendenz ist, die „Volksgemeinschaft“ entdecken zu wollen, die aber nur eine Erfindung der NS-Propaganda war. Die Durchdringung der Gesellschaft durch die Nazis wird überschätzt. Die NSDAP konnte sich zu keinem Zeitpunkt, nicht einmal nach dem Sieg über Frankreich, auf eine ungeteilte Zustimmung der Bevölkerung stützen.