Vietnam-Krieg – Die USA und ihr verheerender Irrtum
Vietnam gilt als schwerste militärische Niederlage der USA. Vor 40 Jahren endete der Konflikt. Was bleibt, ist eine niederschmetternde Bilanz.
Washington.
Am tiefsten Punkt der Bodensenke, in der Amerika seiner bislang schlimmsten militärischen Niederlage gedenkt, steht an einem sonnigen Morgen im April inmitten lärmender Schulklassen und Touristengruppen ein dünner, alter Mann mit Gehstock und kämpft mit Tränen. Bob, mehr möchte der Veteran aus einem kleinen Nest bei Chicago über seine Identität nicht preisgeben, hat auf dem schwarzen Marmor-Block vor ihm, der die Jahreszahl 1975 trägt, „alte Kameraden“ entdeckt, „die es damals im Gegensatz zu mir nicht mehr nach Hause geschafft haben, auch wenn der Krieg doch schon vorbei war“.
Mit dem Zeigefinger streicht der 73-Jährige über die in Stein gemeißelten Namen, ganz sachte. Dann nimmt er für einen Moment Haltung an und fasst sich ans Herz. „Es fühlt sich an, als würde man eine Narbe berühren.“
Vietnam-Memorial wurde 1982 eröffnet
Eine Narbe berühren. Nachempfinden. Still gedenken. Zwiesprache halten. Das war die Idee der jungen Studentin Maya Lin (23), nach deren Entwurf das „Vietnam Memorial“ auf der Mall in Washington, dem Freiluft-Historienpark der Hauptstadt, 1982 eröffnet wurde. Kein pompöser Hier-bin-ich-Tempel wie das nur 500 Meter entfernte Denkmal von Abraham Lincoln sollte es werden. Sondern eine Klagemauer für die unbewältigte Vergangenheit. Ein Erinnerungsort, der sich duckt. Auf einer Länge von 200 Metern ließ Lin schlichte Marmor-Blöcke in den Boden schneiden.
Darauf nicht mehr als ein Meer von Namen. Stand heute: 58 299 Namen. Die Namen derer, die zwischen 1959 und 1975 für Amerika ihr Leben ließen. In einem Krieg, der heute vor 40 Jahren (29./30. April) auf dem Dach eines Saigoner Hochhauses schmählich endete.
Rückblick – Ein Tag der Verzweiflung
Der 29. April 1975 ist in der Hauptstadt Südvietnams ein Tag schierer Verzweiflung. Tausende Vietnamesen versuchen auf das Gelände der US-Botschaft zu gelangen. Sie klammern sich an die Zäune des abgeschirmten Areals. Sie weinen und flehen. Sie hoffen auf einen Sitzplatz in einem der amerikanischen Militär-Hubschrauber, die Saigon verlassen. Vom Dach der Botschaft aus. Kommunistische Truppen aus Nordvietnam haben bereits weite Teile der Millionenmetropole besetzt. Der Krieg, den Amerika zehn Jahre zuvor vom Zaun gebrochen hat, ist zu diesem Zeitpunkt endgültig verloren. Politisch, militärisch, moralisch.
Die Besatzungsmacht muss den Kampfplatz fluchtartig verlassen. Westlichen Ausländern wird die Evakuierung mit bizarren Codes mitgeteilt. Im Armee-Radio heißt es: „Die Temperatur hat 105 Grad Fahrenheit erreicht.“ Danach hört man Bing Crosbys: „I’m dreaming of a white Christmas.“ Weiße Weihnachten.
US-Botschafter verlässt als letzter Amerikaner Vietnam
Das war das Signal: Raus hier! In den Abendstunden des 30. April steigt US-Botschafter Graham Martin als letzter Amerikaner die Treppe zum Helikopterlandeplatz empor. Stunden später übernimmt der Vietcong die Macht. Hubert van Es, ein holländischer Fotograf, behält im Gedröhn der Rotoren über dem Pittman-Building neben der Botschaft die Übersicht. Er drückt auf den Auslöser und hält fest, was sich als Symbol der Kapitulation in das kollektive Gedächtnis Amerikas einbrennen sollte.
Mit dem Abstand von vier Jahrzehnten fällt die Bilanz unverändert niederschmetternd aus. Drei Präsidenten, John F. Kennedy, Lyndon B. Johnson und Richard Nixon, wollten ihren Wählern weiß machen, mit Vietnam werde ein Eckpfeiler der Freien Welt wegbrechen und die ganze Region „rot“, wenn der kommunistische Vietcong obsiegt. Die Theorie der fallenden Domino-Steine sollte sich als verheerender Irrtum erweisen.
USA lassen Millionen Tonnen Bomben auf Vietnam fallen
Die nach und nach entfesselte US-Kriegsmaschine, vor dem eher kriegsunwilligen Kongress in Washington nicht selten mit Lügen (Golf von Tonking, 1964) legitimiert, lud sieben Millionen Tonnen Bomben über Vietnam ab; drei Mal so viel wie insgesamt an Bomben im Zweiten Weltkrieg eingesetzt wurden. Vier Millionen Vietnamesen, die Mehrzahl Zivilisten, kamen in den „Free Fire Zones“ ums Leben. Drei Millionen wurden nach Angaben der Vereinten Nationen vertrieben.
Noch heute kommen vietnamesische Kinder mit Verstümmelungen zur Welt. Ausgelöst durch 70 Millionen Liter Entlaubungsgift („Agent Orange“), mit denen Amerika die Böden und Wälder Vietnams für Generationen kontaminierte. Vom Elend des Krieges in den Nachbarländern Kambodscha und Laos ganz zu schweigen.
Ahnungslosigkeit – USA im Dschungelkrieg
Schon früh zeigte sich, dass Amerika auf den Krieg im Dschungel nur mangelhaft vorbereitet war. Militärisch fehlte ein klares Ziel. Politisch war der Zweck vage formuliert. Dazu kommt, wie der Historiker Stanley Karnow schreibt, „Ahnungslosigkeit über die Landesgeschichte“, in der es vor Invasoren wimmelt. Als sich die Opferbereitschaft eines um Unabhängigkeit kämpfenden Volkes gegen die haushohe militärische Übermacht der USA durchsetzte, wie der der zunächst verantwortliche Verteidigungsminister Robert McNamara in seinen Memoiren schrieb, „war es zu spät“.
Frust und Enttäuschung machen sich in der US-Truppe breit, die auf dem Höchststand 600 000 Köpfe zählt. An der Front sterben meist Männer aus sozial schwachen Schichten. Fast die Hälfte der Gefallenen ist keine 21 Jahre alt. Es kommt zu Ausschreitungen und Massakern. Im Dorf My Lai werden 500 unbewaffnete Zivilisten von Leutnant William Calleys Männern abgeschlachtet, darunter Alte, Frauen und Kinder. In einem Dorf bei Saigon fliehen Mädchen vor den Napalm-Bomben der USA.
Der Krieg wird auch im Wohnzimmer ausgetragen
Die Bilder von den Gräueltaten verfehlen in den Fernsehwohnzimmern zwischen Kansas und Kalifornien ihre Wirkung nicht. Schon 1971 halten 60 Prozent der Amerikaner in Umfragen den Krieg in Fernost für „amoralisch“. Eine Protest-Bewegung, die bis nach Europa vordringt, kommt in Gang und führt neben den eskalierenden Rassen-Konflikten zu einer tiefen Spaltung der amerikanischen Gesellschaft. Kriegsgegner werden zu den wahren Patrioten.
Der Rest ahnt, einer furchtbaren Propaganda auf den Leim gegangen zu sein. Das Vertrauen in die politische Führung zerbricht. Es sind diese Begleiterscheinungen des ersten „Fernseh-Kriegs“ der Geschichte, die Nixon und seinen Außenminister Henry Kissinger am Ende zum Rückzug zwingen.
John Rambo ist das filmische Denkmal der Vietnam-Veteranen
Dass die Tragödie zu Hause ihre Fortsetzung fand, ist bis heute zu besichtigen. Als die GIs zurückkehrten, blieb ihn Dank und Anerkennung verwehrt. Man spuckte sie an. Wie Aussätzige fühlten sich viele behandelt. Hollywood baute der „Lost Generation“ mit John Rambo ein filmisches Denkmal.
Die Realität ist noch bedrückender. Arbeitslosigkeit, Drogen-Konsum, Obdachlosigkeit, Selbstmord-Rate – Veteranen aus den Kriegen von Vietnam bis Afghanistan liegen in den Statistiken des Prekären überall vorn. Nicht mal eine angemessene medizinisch-psychologische Betreuung kann das reichste Land der Erde für sie gewährleisten.
Vietnam hinterlässt Spuren
Die Lernkurve nach Vietnam verläuft zwiespältig. Mit der „War Powers Resolution“ wurden die Befugnisse des Präsidenten als Oberbefehlshaber eingeschränkt. Krieg bedarf seither binnen 60 Tagen der Zustimmung des Parlaments. Die Furcht, abermals in einen Sumpf zu geraten, ohne zu wissen, wie man wieder herausfindet, ließ den Weltpolizisten danach immer wieder zögern: ob in Bosnien, im Kosovo oder in Somalia. Und wenn doch, dann wurde geklotzt.
Als der Vietnamkrieger General Colin Powell in den Golfkrieg zieht, nimmt er vorsichtshalber 400.000 Soldaten mit. Ein Viertel hätte gereicht. Aber schon in Afghanistan macht die Supermacht alte Fehler aus der Ära Vietnam. Sie unterschätzte den Widerstandsgeist des Feindes und Jahrhunderte alte Gesetzmäßigkeiten. Die Taliban sind, 13 Jahre nach Beginn des Einsatzes, immer noch da.
Vietnam hat das Bewusstsein der der USA verändert
Auch im Irak-Krieg gegen Saddam Hussein wirkte sich aus, dass „die Kriegs-Apostel im Pentagon in Vietnam gelernt haben, wie man die Wahrheit glättet, verbiegt und beerdigt“, schreibt der Historiker Christian Appy in seinem neuen Buch. Als Begründung wurden Massenvernichtungswaffen erfunden.
Für Appy ist das schlimmste Vermächtnis Vietnams „die Gewöhnung und Verdrängung“. Amerikaner hätten seit dem Fall Saigons gelernt, „in einem dauerhaften Kriegszustand zu leben, ohne dass der Krieg Teil des täglichen Bewusstseins wäre“. Sein Beleg: 2014 haben US-Spezial-Einheiten in 133 Ländern der Erde militärische Missionen durchgeführt; weitgehend unbeobachtet von Medien und Bürgern.