Veröffentlicht inPolitik

„Ungeimpfte können zu einer Gefahr für alle werden“

„Ungeimpfte können zu einer Gefahr für alle werden“

Essen. 

Der Glaube, gefährliche Infektionskrankheiten ein für alle mal besiegt zu haben, hat getrogen. Dies zeigt erneut der Masernausbruch in Berlin, der eine neue Debatte über eine Impfpflicht ausgelöst hat. Für Prof. Eckhard Nagel, Direktor des Uniklinikums Essen und Mitglied des Ethikrates, ist die Impfung auch eine Frage der Verantwortung des Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft.

Warum ist die Impfung wichtig?

Prof. Nagel: In den 70er-Jahren dachte man, wir hätten die Infektionskrankheiten im Griff. Aber nicht nur die neuen Masernfälle zeigen, dass dies nicht richtig ist. Um gegen eine schwere Krankheit wie Masern einen wirkungsvollen Schutz aufzubauen, müssen wir überall eine Durchimpfung von 95 Prozent der Menschen erreichen, wie es die Weltgesundheitsorganisation fordert.

Reicht es nicht, über die Gefahren zu informieren? Viele Menschen wissen nicht, dass es sich bei Masern um eine gefährliche Infektionskrankheit handelt…

Aufklärung ist wichtig, aber es wird nicht reichen. Wir werden es selbst mit den besten Kampagnen nicht schaffen, alle Eltern ausreichend zu sensibilisieren. Wichtig ist aber, dass wir auch die Familien zur Impfung bewegen, die dem Thema Gesundheit nicht so viel Aufmerksamkeit widmen.

Was also ist zu tun?

Wir müssen die Frage stellen, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Gibt es nicht eine moralisch begründbare Pflicht, solidarisch gegenüber der Gesellschaft zu handeln? Zum Beispiel kann eine Infektionskrankheit viele Menschen anstecken. Jeder sollte also nicht nur auf sich selbst sehen, sondern muss sich auch die Frage stellen, welche Verantwortung er für die Gemeinschaft trägt, in der er lebt. Das betrifft viele Bereiche im Gesundheitswesen, unter anderem auch die Organspende.

Plädieren sie für die Impfpflicht?

Die persönliche Entscheidungsfreiheit ist natürlich ein hohes Gut. Aber wenn wir in einem kurzen Zeitraum plötzlich zwanzig tote Kinder zu beklagen hätten, dann kommt die Impfpflicht ganz schnell. Es muss Impfpflichten geben, wenn Infektionen wie die Masern ein großes, unkalkulierbares Risiko darstellen für Kinder und Jugendliche.

Und wenn Eltern sich weigern?

Wir können nicht alle Leute überzeugen, das sehe ich ein. Bei einer Leukämie ist es so, dass Eltern eine Behandlung ihres krebskranken Kindes nicht verweigern können, wenn eine klare medizinische Indikation besteht. Der Staat kann also entscheiden, ob eine Schutzpflicht in bestimmten Fällen so wesentlich ist, dass er den Eltern die Entscheidung per Gesetz abnimmt. In Deutschland wurde bereits 1874 eine solche Pflicht für Pocken eingeführt, die bis 1974 galt und geholfen hat, sie auszurotten.

Das wäre ein Eingriff in die Freiheitsrechte des Einzelnen…

Ja, aber dem steht der Solidaritätsgedanke entgegen. Unser Gesundheitssystem ist auf dem Solidaritätsprinzip aufgebaut. Wir akzeptieren die Pflicht, uns krankenversichern zu lassen. Und auch die Haftpflichtversicherung für Autofahrer, die einen Dritten schützen soll, steht nicht in der Kritik. Bei der Impfpflicht ist das anders. Freiheit ist ein unverzichtbarer Grundsatz unseres Wertesystems. Aber ebenso Verantwortung und Gerechtigkeit. Ungeimpfte können zu einer Gefahr für alle werden.

Eltern, die vor der Entscheidung stehen, ihr Kind zu impfen oder nicht, werden zuerst an das Risiko für ihr Kind denken und nicht an die gesellschaftliche Tragweite.

Natürlich sind Eltern besorgt. Auch wenn der Impfstoff als sehr sicher gilt. Die Komplikationsrate liegt bei eins zu einer Million. Kommt es ohne Impfung zu einer Masern-Infektion, liegt die Gefahr gesundheitlicher Folgeschäden bei eins zu Fünftausend.

Was stört sie an kritischen Argumenten?

Sie sind oft sehr Ich-bezogen. Vorbehalte ändern sich schnell, wenn eine Krankheit auch zahlenmäßig eine Katastrophe auslöst. Wenn es um Ebola ginge, würden vermutlich alle nach der Impfung rufen. Aber die Diskussion muss vorher ansetzen und schon den tragischen Einzelfall wahrnehmen.