Trendwende im Ruhrgebiet: Einwohnerzahl steigt wieder
Zum zweiten Mal in Folge stieg innerhalb der Grenzen des Regionalverbandes Ruhr im letzten Jahr die Einwohnerzahl
Statistiker glauben, dass die Entwicklung wegen des Flüchtlingszustroms noch an Dynamik gewinnen wird
Das Ruhrgebiet profitiert von der „Renaissance der Großstädte“
Essen.
Nach jahrelang rückläufigen Zahlen und anderslautenden Prognosen zeichnet sich im Ruhrgebiet eine Trendwende hin zu einer wieder wachsenden Bevölkerung ab. Zum zweiten Mal in Folge stieg innerhalb der Grenzen des Regionalverbandes Ruhr (RVR) im letzten Jahr die Einwohnerzahl. Das ergaben Berechnungen des Statischen Landesamtes auf Nachfrage dieser Zeitung. „Nicht nur Münster, Köln und Düsseldorf, auch das Ruhrgebiet ist eine wachsende Region“, freut sich Martin Tönnes, Planungsdezernent des RVR. Das sei eine Zukunftschance. „Und das Revier war immer schon eine Integrationsmaschine“, betonte Tönnes.
Zum letzten amtlichen Erhebungszeitpunkt am 30. Juni 2015 lebten laut den Landeszahlen genau 5.063.821 Menschen im Revier, rund 9000 mehr als Ende 2014. Schon damals war im Vergleich zum Dezember des Vorjahres die Einwohnerzahl um rund 8000 gestiegen, allerdings in einem Zeitraum von zwölf Monaten. Jetzt wuchs die Bevölkerung binnen eines halben Jahres um einen noch höheren Wert.
Die Landesstatistiker gehen davon aus, dass die Entwicklung wegen des Flüchtlingszustroms in der zweiten Jahreshälfte noch an Dynamik gewinnen wird. Gezählt werden dabei die den Städten zugewiesenen Flüchtlinge, keine Asylbewerber in Erstaufnahmeeinrichtungen und Notunterkünften des Landes.
Essen „wächst“ seit 2012, Dortmund seit fünf Jahren
Doch der Trend ist nicht allein der aktuellen Flüchtlingswelle geschuldet. Experten glauben, dass die seit längerem in anderen Ballungsgebieten wie München oder Frankfurt zu beobachtende Renaissance der Städte inzwischen auch das Ruhrgebiet erreicht hat, wenn auch mit geringeren Zuwachsraten. Die Menschen zögen wieder bevorzugt in die Städte, sagte der Bielefelder Bevölkerungsforscher Jürgen Flöthmann im Gespräch mit der WAZ.
Essens Einwohnerzahl steigt seit 2012. Zum Jahresende meldete die Stadt rund 585.000 Einwohner. Dortmund wächst bereits seit fünf Jahren ununterbrochen. Dortmunds Oberbürgermeister Ullrich Sierau (SPD) rechnet sogar damit, dass die größte Revierstadt noch 2016 die 600 000-Marke knackt. Das hatte Dortmund zuletzt Anfang der 90er- Jahre erlebt. Auch in Bochum legt die Einwohnerzahl im zweiten Jahr in Folge zu. Der Zuzug werde den Altersschnitt der Bevölkerung spürbar senken, glaubt Carsten Große Starmann von der Bertelsmann Stiftung.
Die Experten haben es so lange behauptet, bis wir es glaubten: Die Einwohnerzahl des Ruhrgebiets, so lauteten sämtliche Prognosen, wird dramatisch zurückgehen. Und nun kommt es wohl doch anders. 2014 wurde der Abwärtstrend gestoppt, im vergangenen Jahr ging es wieder leicht nach oben. Die vielen Flüchtlinge, die 2015 ins Revier kamen, sind hier nur zu einem kleinen Teil eingerechnet, und das heißt: Viele Städte an der Ruhr dürften noch deutlich Einwohner gewinnen.
Bald 600.000 Einwohner und 40 neue Kitas in Dortmund?
Ullrich Sierau (SPD), Oberbürgermeister von Dortmund, kündigte jüngst an, seine Stadt werde noch in diesem Jahr wieder zur 600.000 Einwohner-Kommune. Dortmund will bis 2020 insgesamt 40 neue Kitas errichten und jede Menge Bauland ausschreiben.
„Wenn die Integration der Flüchtlinge klappt, ist das eine Riesenchance für diese Region“, sagte der Regionalforscher Jörg Bogumil von der Ruhruniversität Bochum dieser Zeitung. Der Professor appelliert an die Städte, sofort beim Wohnungsbau, vor allem aber bei der Sanierung und beim Umbau von Altbauten Gas zu geben. „Die Integration der vielen Neubürger muss Chefsache sein in den Rathäusern. Wir dürfen es nicht zulassen, dass Integration vor allem in den Stadtteilen geleistet werden muss, denen es nicht gut geht. In den besseren Quartieren sind die Integrationsmöglichkeiten sogar größer.“
„Die Menschen ziehen wieder bevorzugt in die Städte. Die Stadtregion Ruhrgebiet wird also auf jeden Fall Bevölkerung gewinnen. Und das Revier hat viel Erfahrung mit Integration und Strukturwandel“, erklärt der Bielefelder Bevölkerungsforscher Jürgen Flöthmann. Zuwanderung helfe, die Wirtschaftskraft einer Region zu erhalten. Wenn die Neubürger gut ausgebildet werden.
Ist der demografische Wandel also kein Thema mehr? Carsten Große Starmann von der Bertelsmann Stiftung warnt vor Euphorie. „Das Thema Überalterung ist keineswegs erledigt. Es wird auf jeden Fall zukünftig viel mehr Hochbetagte geben als heute“, sagte er. Aber gleichzeitig werde durch die Zuwanderung jüngerer Menschen der Altersschnitt der Gesellschaft gesenkt.
Die Renaissance der Großstädte
Optimistisch blickt gerade Dortmund auf seine Bevölkerungsentwicklung. Gegen den damals vorherrschenden Revier-Trend wächst die Zahl der Einwohner in der größten Ruhrgebietsstadt schon seit fünf Jahren wieder. Der Anstieg begann also deutlich vor der aktuellen Zuwanderungswelle. Berthold Haermeyer, Leiter der städtischen Statistikabteilung, nennt als Gründe den Zuzug aus den EU-Neumitgliedsstaaten Rumänien und Bulgarien. Auch ein leichter Rückgang beim sogenannten Sterbeüberschuss gilt unter Statistikern als Faktor, der den Abwärtstrend der Einwohnerzahl in jüngster Zeit abgebremst hat. Laut Haermeyer kann aber auch das Ruhrgebiet inzwischen von der seit einigen Jahren zu beobachtenden Renaissance der Großstädte in Deutschland profitieren. „Wir stellen in Dortmund eine klassische Bildungswanderung fest“, sagt Haermeyer. Heißt: Junge Leute aus kleinen Städten und ländlichen Regionen zieht es nach der Schulausbildung vermehrt in die Großstädte, wo sie Studienplätze und Ausbildungsstellen finden. Haermeyer: „Das gilt für Dortmund, aber auch für andere Ruhrgebietsstädte.“
Auch Bochum zählt zu den Gewinnern
Dass Universitätsstädte dabei besonders profitieren, liegt auf der Hand. So erfreut sich auch Bochum seit 2014 wieder einer wachsenden Bevölkerung. Aktuell zählt die Stadt der Ruhr-Uni 366.348 Einwohner mit Hauptwohnsitz. Zähle man die Einwohner mit gemeldetem Zweitwohnsitz noch hinzu, seien es sogar rund 1900 mehr, berichtet die Leiterin der städtischen Statistik-Abteilung, Heike Feldmann.
Die teilweise großen Unterschiede zu den amtlichen Landeszahlen ergeben sich laut der Stadt-Statistiker aufgrund verschiedener Bezugsgrößen. Das Land zählt auf Basis des Zensus 2011, die Städte auf Grundlage ihres eigenen Melderegistern. Dortmunds Statistik-Chef Haermeyer räumt ein, dass wohl keine der beiden Werte auf den Einwohner genau sei. Haermeyer: „Wir liegen aber sicher näher an der Wahrheit als das Land.“