Hagen.
Der deutsche Fußball hat einen Modebegriff erfunden: Spanische Verhältnisse.
Die neue Medienwelt mit Internet, Twitter und Facebook haben es möglich gemacht, dass die Wort-Schöpfung „Spanische Verhältnisse“ von einer Minute auf die andere im ganzen Land bedenkliches Kopfschütteln auslöste: Oh, spanische Verhältnisse, wie furchtbar.
Furchtbar, weil im spanischen Fußball die beiden Klubs Real Madrid und der FC Barcelona seit Jahrzehnten die Liga so beherrschen wie es in der Bundesliga momentan Bayern München und Borussia Dortmund tun. Und noch furchtbarer, weil dadurch das komplette Abendland zwangsläufig bald in Langeweile versinken muss.
Es ist ein Kennzeichen der schönen neuen Medienwelt, dass genau diese Interpretation nur eine Woche hielt und nun für die kommenden Tage umgekehrt wird: Im Halbfinale der Champions League treffen die Bayern heute auf Barcelona, der BVB spielt morgen gegen Real Madrid. Beide Duelle wachsen zum Fußball-Höhepunkt des Jahres.
Es lohnt also, einen genaueren Blick auf das deutsch-spanische Verhältnis zu werfen.
Die Geburt des Weißen Balletts
Die neuere Geschichte beider Länder begann vor 50 Jahren außerhalb des Fußballplatzes. Der Versand-Unternehmer Josef Neckermann nahm damals Pauschalreisen in sein Angebot auf und flog Urlauber mit einer viermotorigen Propellermaschine des Typs Vickers Viscount für 320 Mark nach Mallorca, zwei Wochen Vollpension inklusive.
Die Deutschen lernten ein Land kennen, das im Fußball im Vergleich mit deutschen Klubs bis dahin erst einmal auffällig geworden war: 1960 hatte Real Madrid die Frankfurter Eintracht im Europapokal-Finale mit 7:3 zerlegt. Real in den weißen Trikots erhielt den Namen: Weißes Ballett. Einerseits war dieses Ballett eine Fußball-Demonstration, andererseits eine politische Machtvorstellung. General Franco, der Spanien von 1939 bis zu seinem Tod 1975 als Diktator regierte, bezeichnete sich selbst als „größten Fan“ von Real Madrid. Mit dem Argentinier di Stefano und dem Ungarn Puskas ließ er zwei Weltstars des Fußballs einbürgern und für seinen Lieblingsklub auflaufen.
Weil diese Strategie Erfolg brachte, setzte Real die Einkaufspolitik fort, und in den 70er-Jahren erschien die nächste Verknüpfung mit Deutschland. 1973 wechselte erst Günter Netzer zu Real, ein Jahr später folgte Paul Breitner. Ausgerechnet Breitner, der sich mit einer Mao-Bibel fotografieren ließ, landete beim Klub des Diktators.
Tiki-Taka-Ballzauber
Das Einkaufen der Stars wurde für die Spanier allerdings schwieriger, denn der europäische Fußball entwickelte sich und zog nach. Daher griff 2003 die spanische Regierung unter Ministerpräsident Jose Maria Aznar mit dem so genannten Beckham-Gesetz erneut ein. Es besagte: Ausländische Fußballstars, wie eben der Engländer David Beckham, mussten in Spanien statt der 43 Prozent des Spitzensteuersatzes nur 24 Prozent Steuern zahlen.
Spanien war wieder lukrativ. Diese Subvention des Profifußballs schaffte der Staat zwar 2010 wieder ab, doch für vorher geschlossene Verträge gilt sie weiterhin. Heißt: Cristiano Ronaldo, bei Real seit 2009 der höchstdotierte Fußballer der Welt, zahlt lediglich den Steuersatz für Mindestlohn.
So hat Spanien nach dem Motto Brot und Spiele über Jahrzehnte das Umfeld für eine Star-Liga geschaffen, in der sich der schönste Fußball der Welt entwickeln konnte. Mit ihrem Tiki-Taka genannten Ballzauber gewannen die Spanier 2010 den WM-Titel sowie 2008 und 2012 jeweils den EM-Titel.
Die Deutschen wurden neidisch. Bundestrainer Joachim Löw fand Gefallen an Tiki-Taka, und nun gibt es Diskussionen, ob die Nationalelf nicht auf einen Mittelstürmer wie Mario Gomez verzichten sollte, um mit Kombinationsfußballern wie Mario Götze oder Marco Reus im spanischen Stil Titel zu gewinnen. Statt Brechstangen-Ballett lieber Weißes Ballett?
Die Annäherung ist gewollt
Zwei Länder nähern sich an. Auf Mallorca spricht man mittlerweile Deutsch, die DFB-Elf baut spanische Elemente ein. Die Annäherung ist nicht verwerflich, sie ist in der EU politisch sogar gewollt.
Dabei kümmert sich der Profifußball traditionell wenig um Politik, er sucht vielmehr den Erfolg. Spanischer Fußball ist erfolgreich, und daher sind in dieser Saison sieben spanische Profis in der Bundesliga unter Vertrag, so viele wie nie. Dem gegenüber stehen allerdings 19 Brasilianer. In Spanien haben mit Udo Lattek, Jupp Heynckes, Bernd Schuster, Bernd Krauss und Ewald Lienen mehrere deutsche Trainer bei Spitzenklubs gearbeitet. Mit Pep Guardiola haben die Bayern erst für die kommende Saison den ersten spanischen Trainer in die Liga geholt.
Spanische Verhältnisse stellt man sich irgendwie anders vor.