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„Patient Ruhrgebiet“ – Gemeinsamer Hilferuf der Politiker

„Patient Ruhrgebiet“ – Gemeinsamer Hilferuf der Politiker

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Foto: Funke Foto Services
Revier-Abgeordnete von SPD, CDU und Grünen stellen bei einer Konferenz in Essen erstmals gemeinsam Forderungen an Bund und Land.

Essen. 

Es sollte ein Signal sein für die Rettung des Ruhrgebiets: Auf der ersten Abgeordnetenkonferenz des Ruhrgebiets haben rund 80 hochrangige Politiker von SPD, CDU und Grünen mehr Unterstützung für die wirtschaftlich angeschlagene Region eingefordert. Ihr Hilferuf richtet sich an die Bundes- und die Landesregierung. Sie sollten dabei helfen, die Städte an der Ruhr zu entschulden, den Nahverkehr zu verbessern, Flüchtlinge zu integrieren und die hohe Zahl von Langzeitarbeitslosen zu verringern.

„Das ist keine Bittsteller-Konferenz, und wir wollen auch keinen Marshall-Plan, aber ohne Unterstützung von außen wird es nicht gehen“, sagte der Chef der CDU Ruhr, Oliver Wittke am Wochenende in Essen. Der Sprecher der Ruhr-SPD, Frank Baranowski, verglich das Ruhrgebiet mit einem „Patienten“. Wenn er jetzt nicht fit gemacht werde, drohe ihm eine extrem teure Kur.

Zum ersten Mal stellten Kommunal-, Bundes-, Landes- und Europapolitiker aus dem Revier gemeinsam Forderungen an Berlin und Düsseldorf. Sie haben Dutzende Wünsche aufgeschrieben. Dazu gehören die Weiterentwicklung des Solidaritätszuschlages zu einem „Fonds zur Sicherung und zum Ausbau der Infrastruktur in Deutschland“, die schnelle Inbetriebnahme des Rhein-Ruhr-Express (RRX), flächendeckend schnelles Internet sowie mehr Lehrer und Schulpsychologen zur Integration von Flüchtlingen.

Andere Großstadtregionen wie Berlin, Hamburg, München und Stuttgart hätten das Ruhrgebiet längst abgehängt, sagte der frühere Chef der Kulturhauptstadt, Fritz Pleitgen. Es gelinge ihnen oftmals besser, Hilfe von außen zu bekommen. Pleitgen nannte als Beispiel den umstrittenen Bahnhof Stuttgart 21. „Der dürfte rund sechs Milliarden Euro kosten. Dafür könnten wir im Revier alle Bahnhöfe mit feinster Ausstattung sanieren.“

Essens Kämmerer Lars Martin Klieve (CDU) beklagte die desolate Verfassung der städtischen Kassen. Es könne kaum noch investiert werden. „Stattdessen haben wir im Revier überall Sozialhaushalte.“

Norbert Lammert (CDU), dessen in der WAZ geäußerte Kritik am permanenten Hilferuf des Ruhrgebiets („Es pflegt seine Lebenslügen“) für Aufsehen sorgte, war nicht erschienen. Die Abgeordneten von Linken und FDP waren gar nicht eingeladen worden. Begründung: Sie regieren weder im Bund noch in NRW mit.

Gemeinsam gegen das Kirchturmdenken

Rund 80 hochrangige Politiker aus drei Parteien waren zur ersten „Abgeordnetenkonferenz“ nach Essen gekommen. Und annähernd 100-mal war an diesem Tag jenes Wort zu hören, das der ganzen Veranstaltung Sinn verleihen sollte: „Gemeinsam“. Vom Kirchturmdenken, das hier seit Jahrzehnten die Politik prägt, wollen sich offenbar viele Teilnehmer verabschieden. Zusammen, so die Hoffnung, könnte man mehr erreichen. Wenn wir alle Druck ausüben, wir Bundes-, Landes- und Europapolitiker, dann dürfte das Berlin und Düsseldorf beeindrucken. Das ist die Idee.

Vorne am Pult sind zwei, zwischen denen normalerweise nicht nur politische Welten liegen: Oliver Wittke (CDU-Ruhr-Chef) und Frank Baranowski (Ruhr-SPD-Sprecher) sind Gelsenkirchener Rivalen und noch dazu grundverschiedene Charaktere. Der eine (Wittke) ist häufig auf Attacke aus, der andere gibt sich eher besonnen. Diesmal wollen sie wie Kumpel sein, und im Detail sieht das fast komisch aus: Wittke hat sich eine rote Krawatte umgebunden, Baranowski eine mit Schwarz. Sie sitzen nebeneinander, an ihrer Seite der Chef der Ruhr-Grünen, Börje Wichert, und genießen ihren „Coup“.

Stolz auf die Wissenschaft

Die Drei sind die Erfinder der ersten Abgeordnetenkonferenz des Ruhrgebietes. Und tatsächlich ist der Saal des Ruhrparlamentes, der mit seiner biederen Holzverkleidung eher den Charme der Vergangenheit als Aufbruchstimmung verbreitet, anständig gefüllt.

Seitenweise haben die Konferierenden Forderungen aufgeschrieben. Es ist ein „Ritt“ durch alles, was die Region gerade so beutelt: Schuldenkrise, Zigtausende Langzeitarbeitslose, Flüchtlinge in Notunterkünften, ein Nahverkehr mit Bimmelbahn-Qualität. Dazu gesellen sich die vielen unbeantworteten Fragen: Wer sind wir eigentlich nach dem Ende von Kohle und Stahl? Warum hat die Region außerhalb noch immer einen üblen Ruf? Warum nimmt kaum einer unsere Stärken zur Kenntnis: die starke Hochschullandschaft, Innovation City in Bottrop, die aufblühende Gesundheitswirtschaft. Warum hat das Revier keinen Slogan, kein Logo? Fragen, die auf eine Identitätskrise hindeuten.

Es gehe bei der Konferenz darum, ein Zusammengehörigkeitsgefühl herzustellen, wurde betont. In Arbeitsgruppen hatten sich zuvor CDU-, SPD- und Grünen-Politiker erstens kennengelernt und zweitens überlegt, was die Region braucht. Aber diese ganz große Koalition war eine schwere Geburt. Um das gemeinsame Positionspapier wurde praktisch bis zur letzten Minute gerungen.

Was aber braucht die Region denn nun vor allem? Die Antwort der Revierpolitik ist schlicht: Sie braucht Geld. Essens Kämmerer Lars Martin Klieve (CDU), Kassenchef einer Stadt mit 3,5 Milliarden Euro Schulden, klagte: „Unsere Haushalte sind zu Sozialhaushalten geworden.“ Ohne Entschuldungshilfe und Finanzspritzen aus Berlin und Düsseldorf werde sich das nicht ändern. Die Gefahr von steigenden Zinsen sei wie eine „tickende Zeitbombe“ für die Städte. Der Bund solle sich stärker an den Kosten der Unterkunft für Sozialleistungsempfänger beteiligen. Der Solidaritätszuschlag solle weiterentwickelt werden, um Straßen bauen und sanieren zu können.

Wie geht es weiter?

Was auf die erste Abgeordnetenkonferenz folgt, ist offen. Dortmunds Oberbürgermeister Ullrich Sierau (SPD) verglich die Forderungen mit einer Weihnachts-Wunschliste. Es fehle der nötige „Umsetzungsmechanismus“, um das alles durchzudrücken. Könnte sein, dass auf die erste demnächst eine zweite Konferenz folgt. Dann will man bilanzieren, ob Berlin und Düsseldorf zucken, wenn das Revier auf den Tisch haut.