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Kommen psychisch kranke Täter bald schneller frei?

Kommen psychisch kranke Täter bald schneller frei?

Forensik in Bedburg-Hau.jpg
Foto: WAZ FotoPool
In den 90ern wollte man psychisch kranke Täter lange wegsperren. Das wird heute in Frage gestellt. Langzeit-Patienten in NRW könnten frei kommen.

Münster. 

Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) hält es für wahrscheinlich, dass künftig immer wieder psychisch kranke Straftäter aus der ­Psychiatrie entlassen werden, von de­nen eine Gefahr für die Bevölkerung ausgeht. Hintergrund ist die Überarbeitung eines Gesetzes, das die Einweisung in psychiatrische Kliniken regelt.

„Bisher war die Devise bei langjährig Untergebrachten: im Zweifel in der Psychiatrie lassen. Nun heißt es eher: im Zweifel entlassen“, sagte der zuständige LWL-Dezernent Tilmann Hollweg zur WAZ. Es würden bald aufgrund von ­Gerichtsbeschlüssen mehr Menschen in Freiheit kommen, bei denen Klinikexperten einen Rückfall nicht ausschließen könnten. „Eine Gefährdung für die Bevölkerung wird durch die Gesetzesänderung in Kauf genommen“, sagte ­Hollweg.

Entlassung nach 26 Jahren

Mitte der 1980er-Jahre fällt Klaus R. (Name geändert) in Ostwestfalen als Straftäter auf. Der Mann, bei dem Gutachter später eine Intelligenzminderung, frühkindliche Hirnschädigung und eine Persönlichkeitsstörung feststellen, begrapscht Frauen und fällt mehrfach als Exhibitionist auf. 1988 wird er zu fünf Monaten Haft verurteilt, und er wird in eine Klinik für psychisch kranke Straftäter (Forensik) eingewiesen. Dort bleibt er 26 Jahre lang, bis er Ende 2014, fast schon im Rentneralter, nach einem Gerichtsbeschluss entlassen wird. Ausdrücklich gegen die Empfehlung der Klinik, denn die hält R. für gefährlich und im Grunde „nicht behandelbar“.

Dennoch: Die Justiz befand, Rs Jahrzehnte währender Aufenthalt in der Psychiatrie sei „unverhältnismäßig“. Ein wichtiges Wort. Eines, das seit dem Aufsehen erregenden Fall Gustl Mollath auf einmal wieder eine große Rolle spielt bei der Beurteilung von Patienten, die sehr lange im Maßregelvollzug, also in einer forensischen Klinik, sitzen. Gustl Mollath, fast acht Jahre lang Maßregelvollzugs-Patient in Bayern, war Opfer einer rigiden, sich selbst nicht in Frage stellenden Rechtsprechung und fragwürdiger psychiatrischer Gutachten. Der offenkundige Justizirrtum, die Wiederaufnahme des Verfahrens und Mollaths Freilassung heizten eine schon etwas ältere Diskussion weiter an: Wie zuverlässig sind Gutachten über Psychiatrie-Patienten? Warum sitzen immer mehr Menschen immer länger in der Forensik? Wie verhältnismäßig sind die Langzeit-Unterbringungen?

Am Ende dieser Diskussion dürfte eine Gesetzesänderung stehen, die möglicherweise vielen Langzeit-Patienten die Freiheit bringt. Der Paragraf 63 StGB, von Mollath einmal als „Nazi-Gesetz“ bezeichnet, wird gerade überarbeitet. Bund und Länder wollen diese Reform. Der „63“ regelt, ob und wie lange ein Mensch in die Psychiatrie muss. Bisher ist es ein sehr strenges Gesetz. Straftäter kommen relativ schnell in die Psychiatrie und bleiben sehr lange drin. Das war seit den 1990er-Jahren politisch so gewollt. Sextäter, die sich an Kindern vergehen, müsse man „wegschließen – und zwar für immer“, forderte Kanzler Gerhard Schröder vor 15 Jahren. Die Stimmung in der Bevölkerung war damals (und ist es wohl noch) genau so. Die Kliniken wurden immer voller, und derzeit bleibt ein nach Paragraf 63 Eingewiesener doppelt so lange in einer Forensik wie im Jahr 1995. Im Schnitt fast neun Jahre. Jeder Dritte wird länger als zehn Jahre „weggesperrt“. Allein in Westfalen betrifft das 217 Patienten, 40 Prozent von ihnen sind Sexualstraftäter.

Die neue Devise: Im Zweifel raus

Viele von ihnen dürfen nun aber auf Freiheit hoffen. Denn ein „entschärfter“ Paragraf 63 ist in Vorbereitung. Die Diskussion um den „63“ und die Verhältnismäßigkeit der Strafen ist schon ein paar Jahre alt. Das Bundesverfassungsgericht beschäftigte sich mehrfach damit. Durch den Fall Mollath gewann sie an Fahrt. „Bisher war die Devise: Langzeitpatienten im Zweifel in der Psychiatrie lassen. Nun heißt es eher: Im Zweifel raus“, erklärt der Maßregelvollzugsdezernent des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL), Tillmann Hollweg. Der LWL ist Träger von forensischen Kliniken mit 1300 Patienten.

Die Hürden für eine Entlassung dürften bald niedriger liegen. Sehr lange soll ein Mensch nur dann in einer Forensik bleiben, „wenn Taten drohen, durch die die Opfer körperlich oder seelisch schwer geschädigt werden“, nicht aber, wenn „nur“ ein wirtschaftlicher Schaden droht. Die Gefahr, die vom Patienten ausgeht, muss sehr „konkret“ sein, nicht nur „vermutet“. Und: Es werden häufiger Gutachten von wechselnden Fachleuten erstellt.

„Eine Gefährdung für die Bevölkerung wird durch die Gesetzesänderung in Kauf genommen“, warnt Hollweg. Heute schon orientierten sich die Gerichte mehr als früher an der Verhältnismäßigkeit einer Strafe. „Die Gesetzesänderung wird sozusagen schon vorweggenommen.“ Im vergangenen Jahr wurden so in Westfalen acht Patienten entlassen, denen Gutachter eine anhaltende Gefährlichkeit attestierten.