Freilassing.
Er will weiter, aber das geht nicht. Ali Achmid aus Bagdad steht mit anderen Flüchtlingen hinter dem rot-weißen Absperrband auf Gleis 1 im Bahnhof Freilassing im oberbayerischen Landkreis Berchtesgadener Land. Bundespolizisten haben ihn aus dem IC 218 – von Graz nach Frankfurt am Main – geholt. Achmid weiß nicht, warum. Man könne doch einfach bis München reisen, hat er gehört. Geht das jetzt nicht mehr?
Achmid kann sich nicht ausweisen. Sein Pass sei bei den Eltern im Irak, sagt er, seine Tasche mit Geld und Papieren habe er verloren. Er fragt: „Was passiert jetzt mit uns?“ Bittet den Reporter: „Bitte frag, was sie mit uns machen.“
Das wissen die Polizisten selbst noch nicht. Dann diese Frage: Wie viele Flüchtlinge sind denn aus diesem Zug geholt worden? Ludger Otto, Einsatzleiter der Bundespolizei, sagt knapp: „Kann ich im Moment gar nicht genau sagen.“
Die Bundesrepublik kontrolliert seit Sonntag wieder ihre Grenzen, das Schengen-Abkommen wird zeitweise außer Kraft gesetzt, sagte der Innenminister de Maizière. Es war ein Eingeständnis: Deutschland kann so viele Flüchtlinge nicht mehr aufnehmen.
Dem Schengen-Abkommen von 1985 gehören 26 Länder mit 400 Millionen Menschen an. Neben 22 EU-Staaten gehören auch Norwegen, Island, die Schweiz und Liechtenstein dazu. Schengen steht für grenzenloses Reisen in Europa.
Österreich zieht nach
Auch Österreichs Innenministerin Johanna Mikl-Leitner kündigte gestern temporäre Grenzkontrollen an, beginnend an der Grenze zu Ungarn. Die Slowakei kontrolliert an den Grenzen nach Ungarn und nach Österreich, die Niederlande planen verschärfte Grenzkontrollen. Tschechiens Behörden schickten 200 Polizisten an die Grenze zu Österreich. Auch an der deutsch-tschechischen Grenze soll es vorübergehend Kontrollen geben.
Noch letzte Woche fuhren Zehntausende Flüchtlinge in Zügen von Budapest nach München. De Maizière stoppte den Zugverkehr, 950 Menschen schliefen in der Tiefgarage des Salzburger Hauptbahnhofs. Montag früh dann die Nachricht: Es fahren wieder Züge.
Kurz nach halb elf Uhr stoppt der erste IC aus Österreich in Freilassing. Acht bis zehn Züge pro Stunde halten zu Stoßzeiten im kleinen Grenzort bei Salzburg, jetzt endet hier die Balkanroute.
Ali Achmid flüchtete vor zwei Wochen aus dem Irak nach Istanbul, von dort im Boot nach Griechenland und weiter mit Bussen und Zügen bis hierher. Im Irak arbeitete er als Ingenieur in der Ölindustrie, jetzt will der 26-Jährige Deutsch lernen und Arbeit finden.
Ein Polizist erklärt, dass gerade „gut und gerne 300“ Menschen auf Gleis 1 stehen. Ein Kind habe sich gerade übergeben, Magenverstimmung oder so, sagt der Polizist, es sei aber schon auf dem Weg in die Klinik. Man wolle die Flüchtlinge menschenwürdig aufnehmen, es gebe gleich Wasser und Brötchen.
Wer von Freilassing im Auto nach Salzburg fährt, kommt über die Saalach-Brücke in die Stadt. Die Gegenfahrbahn ist gesperrt, Bundespolizisten kontrollieren die Fahrzeuge, winken Lkw, Kleinlaster oder Wohnwagen heraus. Die Polizisten klettern in die Wagen, suchen nach Schleusern. Frühmorgens haben sie einen erwischt.
Derrick Pieper Bardales stand 40 Minuten im Stau. Er fährt in seinem Bus nach Stuttgart, zeigt seinen Pass. „Es ist gut, dass der Staat das so entschieden hat“, sagt er, trotz des Zeitverlustes. „Aber was soll man machen.“ Am Nachmittag werden hier Flüchtlinge zu Fuß über die Grenze kommen.
In Bussen zur Registrierung
Die Menschen vom Bahnhof Freilassing werden in Bussen zur Registrierungsstelle gefahren, eskortiert von Polizei. Schlafen sollen sie in einer Turnhalle. Ali Achmid wartet hinter der Absperrung auf den Bus. Man kann jetzt nicht mehr mit ihm reden, die Polizisten lassen ihn nicht durch. Die haben jetzt Verstärkung aus Hamburg durch 90 Kollegen, die am Sonntag nach dem Einsatz bei einer rechten Demo neun Stunden durch die Nacht angereist waren. Wo sie heute schlafen, wissen sie noch nicht. Betten für 90 Mann? Das könnte auch für sie eine Turnhalle werden.
In Salzburg heißt es auf der Bahnhofsanzeige: „Deutschland hat den Zugverkehr von Österreich nach Deutschland über Freilassing gestoppt. Die Weiterbeförderung ist mit Zügen nicht mehr möglich.“ Vormittags fuhren sie, am Nachmittag wieder nicht. Stündlich ändern sich die Regeln. Die Deutschen scheinen sich nicht sicher zu sein, welche Strategie die beste ist.